Hallo,
ich halte es überhaupt nicht für altmodisch Ernsthaftigkeit, Disziplin und Respekt auch heute noch im Ausbildungs- und Berufsleben zu erwarten. Die Art und Weise, wie sich diese Dinge heute ausdrücken sollten, hat sich sicherlich vielfach geändert. Dies hat aber nichts daran geändert, was grundsätzlich immer noch notwendig ist.
Und zur Ernsthaftigkeit gehört natürlich insbesondere auch, das Gegenüber ernst zu nehmen, und nicht das Deckblatt der Bewerbung um einen Ausbildungsplatz als Kosmetikerin partiell mit „Rechtsanwaltsfachangestellte“ zu überkleben, und dann ein vor Begeisterung triefendes Anschreiben dazu zu packen, wonach man ja sein ganzes Leben immer schon ReNo werden wollte (landete so als eine der vielen ungefragten und ungeliebten Initiativbewerbungen auf meinem Schreibtisch). Ich kann über einen einzelnen Rechtschreibfehler problemlos hinwegsehen, wenn ansonsten die ganze Bewerbung einen ordentlichen Eindruck macht, und man das Gefühl gewinnt, dass sich jemand wirklich ernsthaft mit dem beschäftigt hat, was er künftig machen will. Aber so bitte nicht!
Ebenfalls vermisse ich ganz oft die Fähigkeit Prioritäten setzen zu können. Dein Beispiel mit dem Vorstellungstermin passt da wunderbar herein. Ich selbst gehöre auch zu den Leute, die viel von einer ausgeglichenen Lebenssituation halten, nicht nur „nebenbei“ Vater und Ehemann sind, sondern da ein Gesamtpaket geschnürt haben, in dem auch mal in beruflicher Hinsicht klare Grenzen gezogen werden. Aber das funktioniert natürlich nur dann, wenn man auf der anderen Seite nicht nur großes Entgegenkommen erwartet, sondern dieses auch selbst mitbringt. Hier immer richtig zu priorisieren ist natürlich nicht einfach. Aber wer seinem Arbeitgeber immer das Gefühl gibt, er stehe nach Familie, Sport und Freizeit grundsätzlich auf dem letzten Platz, der braucht sich natürlich auch nicht wundern, wenn er nie auf einen grünen Zweig kommt, und im Falle des Falles ganz oben auf der Liste derjenigen stehen wird, auf die man auch ganz verzichten kann.
Allerdings habe ich auch den Verdacht, dass die früher schärfer gezogenen Grenzen für einfache Gemüter besser zu verstehen waren, und daher auch besser beachtet wurden, als es die doch eher weichen Grenzen heute sind.
Wenn früher im Büro Anzug für alle galt, dann konnte man sich daran besser orientieren, als wenn heute die Kleidung im recht freien Ermessen steht, und man zusehen muss, dass man versteht, dass es Tage mit Kundenbesuch gibt, an denen man doch mal wieder zum Anzug greift, dass Stoffhose, Edeljeans und Oberhemd oder Strickpullover doch noch etwas anderes sind als Skaterklamotten, …
Auch das „Du“ in vielen Betrieben, und der freundliche und höfliche Umgangston scheint für viele Menschen schwerer einschätzbar zu sein, als „Sie“ und Befehlston. Wenn ich „möglichst noch heute“, „etwas möchte“, und „vorschlage es auf eine bestimmte Weise zu tun“, dann gibt es immer wieder Kollegen die dies als Aufforderung zur Diskussion und unverbindlichen Wunsch interpretieren, auch wenn klar sein sollte, dass ich aufgrund meiner Position ihnen gegenüber auch genauso gut sagen könnte: „Sie machen das bis heute 17:00 und zwar genau so!“ und der Unterschied zwischen beiden Varianten nur auf der zwischenmenschlichen Ebene, nicht aber inhaltlich zu sehen ist.
Und wenn ich mit meinem Vorstand oft genug rumflaxe, dann muss ich eben trotzdem auch in jeder Blödelei einen ggf. damit gegebenen Arbeitsauftrag erkennen, und dann korrekt umsetzen, weil wir eben nicht nur Spaß miteinander haben, sondern am Ende des Tages sicherstellen müssen, dass wir alle am Monatsende wieder Geld aufs Konto bekommen. Und dafür reicht es eben nicht aus, dass man auch mal eine längere Mittagspause macht, oder bei Gelegenheit mal ohne großes Tam Tam einen halben Tag nicht im Büro sitzt (dann aber seinen BB dabei hat, und auch ran geht, und Mail beantwortet, die dringend sind), sondern dazu gehört eben auch, dass es Tage mit 12 und mehr Stunden gibt, man auch im Urlaub grundsätzlich erreichbar ist, … Nur wird diese zweite Seite der Geschichte eben von vielen nicht gesehen.
Gruß vom Wiz