Auswendig Musiziern

Hallo Musikgemeinde,

als Konzertbesucher fällt mir immer wieder auf, dass Pianisten - ich möchte behaupten: in der Regel - ohne Noten auskommen, also auswendig spilen. Die übrigen Orchestermitglieder aber vor wohlbestückten Notenständern sitzen und vom Blatt spielen, wie am regelmäßigen umblättern zu erkennen ist.

Frage: Sind Pianisten aus irgendwelchen Gründen begabter als andere Musiker, dass sie schneller den Notentext auswendig beherschen, oder kennen sie das Musikstück nur deshalb auswendig, weil sie mehr üben müssen als beispielsweise die Geiger?

Danke dür Eure Erklärungen!

Wolfgang D.

Hallo Wolfgang,

Die übrigen Orchestermitglieder aber
vor wohlbestückten Notenständern sitzen und vom Blatt spielen,

Ich hoffe mal nicht, dass die vom Blatt spielen :wink: das bedeutet nämlich, dass man ein Stück einfach mal hernimmt und es ohne geübt zu haben spielt.

Du meinst sicher, dass Pianisten, wenn sie als Solisten auftreten, auswendig spielen. Das ist aber bei Solisten üblich, also auch wenn ein Geiger z.B. Mozart-Sonaten spielt oder ein Violinkonzert mit Orchester spielt, dann spielt der Solist üblicher Weise auswendig.

Warum die Musiker im Orchester nicht auswendig spielen, kann ich dir auch nicht sagen. Immerhin muss ein Pianist, der einen Klavierabend gestaltet auch ein abendfüllendes Programm beherrschen. Als Orchestermusiker steht aber nicht einer alleine im Vordergrund, was eine Erklärung für das Spielen mit Noten sein könnte.

Viele Grüße,
Booze

Moin, Wolfgang,

der Pianist (besser: Solist) kommt mit seinem eigenen Repertoire auf die Bühne, das dürfte naturgemäß beschränkt sein. Der Orchestermusiker hingegen muss das spielen, was man ihm auf das Pult legt. Unbeschadet dessen, dass auch der Knecht nicht einfach vom Blatt fidelt, sondern durchaus schon mal geprobt hat.

Gruß Ralf

Hallo,

erstens kommt es, wie die anderen auch sagen, darauf an, ob ein Pianist solo spielt oder nicht. Bei Begleitung oder Kammermusik spielt auch er fast immer nach Noten. Mir ist jedoch in den letzten Jahren aufgefallen, dass immer mehr Pianisten in Kammermusikensembles tatsächlich auswendig spielen. Das ist ziemlich gefährlich, denn wenn sie da einmal rauskommen, kommen sie so schnell nicht wieder rein, wenn die anderen einfach weiterspielen.
Spielst du solo, kannst du im schlimmsten Falle aufhören und einfach wieder vorne oder irgendwo mittendrin anfangen.
Sogenannte Melodieinstrumente (die also nur die Melodie und fast keine Harmonien spielen, wie Streicher und Bläser) haben meistens Begleitung. Selbst wenn sie solo auftreten, stellen sie sich manchmal auch Noten hin zur Sicherheit, falls sie rausfliegen und der Begleiter einfach weiterspielt und sie reinfinden müssen.

Dann gibt es tausend weitere Gründe:
-wie schon gesagt, sind Streicher und Bläser Melodieinstrumente, ein Klavier ein Harmonieinstrument. Ein Geiger braucht für ein Stück sehr oft erst eine Klavierbegleitung, damit es klingt. Der Pianist genügt sich immer selbst. Er muss also das komplette Stück lernen, mit allen Harmonien, Aufbau etc. Und das geht lustigerweise leichter ins Ohr und in den Kopf als eine einzige Stimme. Ein Geiger müsste lernen: Melodie - 3 Takte Pause - Melodie - 5 Takte Pause etc…
-im Orchester ist das nochmal was anderes, da bekommen die Streicher vorgesetzt, was sie spielen müssen, ähnlcih wie der Korrepetitor oder auch der Organist in der Kirche. Und merken kann man sich das erst recht nicht, zuviel Takte Pausen zählen, und die Stimmen sind oftmals zweite und dritte und vierte Stimmen, gehen nicht ins Ohr.
-ein Pianist lernt optischer. Er sieht die Tasten. Und v.a. er MUSS sie sehen. Klavierstücke sind so geschrieben, dass man springen und die Tasten treffen muss. Man kann gar nicht woanders hin kucken als auf die Tasten. Geiger haben nix, wohin sie kucken können. Sie schauen ins Leere, ins Publikum. Das verwirrt und lenkt ab. Selbst wenn sie sich musizierend beobachten wollen, sehen sie ihre Finger und 4 Saiten. Tasten kriegt man aber viel leichter ins optische Gedächtnis.

  • ein Pianist hätte auch nie die Hände frei zum Blättern. Außerdem engt auf-die-Noten-kucken auch körperlich ein, man verspannt viel mehr und gestaltet nicht so frei.
  • noch was zur Kammermusik: die ist oft so geschrieben, dass der Pianist nach Noten spielen kann. Da hat auch er mal Pausen, in denen er die Stimmen der anderen verfolgen muss, in denen er mal blättern kann. In der Kammermusik muss der Pianist weniger springen, sondern bleibt mehr „am Platz“. kammermusik ist auch schwerer, auswendig zu lernen, da es oft Begleitung, nicht die Melodiestimme ist. Die Melodie geht immer am besten ins Ohr.

Auswendig spielen ist nicht so schwer. Das muss man oft gar nicht richtig üben. Man lernt das Stück neu und spielt es so oft, dass es irgendwann auswendig drin ist.

Ich hab sicherlich noch einige weitere Gründe vergessen.

Gruß
Judy

Hallo Judy,

ich hatte mir auch einige Gedanken zu meiner Antwort gemacht, bin aber auf keine nachweisbaren Erklärungen gekommen.
Bitte sei mir nicht böse, aber ich denke schon, dass man deine Argumente schnell wiederlegen kann.

Der Pianist genügt sich
immer selbst. Er muss also das komplette Stück lernen, mit
allen Harmonien, Aufbau etc. Und das geht lustigerweise
leichter ins Ohr und in den Kopf als eine einzige Stimme. Ein
Geiger müsste lernen: Melodie - 3 Takte Pause - Melodie - 5
Takte Pause etc…

Du sprichst jetzt aber vom Kammermusiker, oder? Bei einem Violinkonzert muss ich als Solist auch meine Pausen kennen und dazu noch wissen, was das Orchester spielt.
Ich persönlich finde es übrigens einfacher, Geigenstücke auswendig zu lernen, aber auch da habe ich natürlich die Begleitung mit im Kopf.

-im Orchester ist das nochmal was anderes, da bekommen die
Streicher vorgesetzt, was sie spielen müssen, ähnlcih wie der
Korrepetitor oder auch der Organist in der Kirche. Und merken
kann man sich das erst recht nicht, zuviel Takte Pausen
zählen, und die Stimmen sind oftmals zweite und dritte und
vierte Stimmen, gehen nicht ins Ohr.

Dem würde ich nicht uneingeschränkt zustimmen. Bei einem guten Komponisten geht selbst die Bratschenstimme ins Ohr :wink:

-ein Pianist lernt optischer. Er sieht die Tasten. Und v.a. er
MUSS sie sehen. Klavierstücke sind so geschrieben, dass man
springen und die Tasten treffen muss. Man kann gar nicht
woanders hin kucken als auf die Tasten. Geiger haben nix,
wohin sie kucken können. Sie schauen ins Leere, ins Publikum.

Ich sehe meine Klaviertasten nicht so oft. Wenn ich auswendig spiele schaue ich nicht ständig auf die Tasten, die würden mich bloß verwirren :wink:

Das verwirrt und lenkt ab. Selbst wenn sie sich musizierend
beobachten wollen, sehen sie ihre Finger und 4 Saiten. Tasten
kriegt man aber viel leichter ins optische Gedächtnis.

Beim Üben „lernen“ die Finger zunächst ja mal wo sie hin müssen, das ist eher ein haptisches Lernen. Dazu kommt dann noch das Erlernen des Notentextes. Aber die gedrückten Tasten merke ich mir nicht optisch.

  • ein Pianist hätte auch nie die Hände frei zum Blättern.

Das lässt sich einrichten, da habe ich schon sehr viel erfindungsreiches gesehen.

Außerdem engt auf-die-Noten-kucken auch körperlich ein, man
verspannt viel mehr und gestaltet nicht so frei.

Das gilt aber doch für alle Musiker, nicht nur für den Pianisten.

  • noch was zur Kammermusik: die ist oft so geschrieben, dass
    der Pianist nach Noten spielen kann. Da hat auch er mal
    Pausen, in denen er die Stimmen der anderen verfolgen muss, in
    denen er mal blättern kann.

Leider sind bei den meisten Stücken die Pausen nicht in regelmäßigen zweiseitigen Abständen.

kammermusik ist auch schwerer, auswendig zu lernen, da es oft
Begleitung, nicht die Melodiestimme ist. Die Melodie geht
immer am besten ins Ohr.

Es gibt Musiker, die spielen Musik des 20. Jh. auswendig, von der ich auch nicht gerade behaupten würde, dass sie ins Ohr geht. Dagegen ist die 2. Klarinette in einer Mozart-Sinfonie ein Traum :wink:

Auswendig spielen ist nicht so schwer. Das muss man oft gar
nicht richtig üben. Man lernt das Stück neu und spielt es so
oft, dass es irgendwann auswendig drin ist.

Das glauben meine Schüler auch immer, und beim nächsten Vorspiel haut es sie an der erstbesten Stelle raus, weil sie die Noten nicht im Kopf haben. Glücklich der, der das Stück trotzdem durchbekommt.

Meiner Meinung nach hängt es nur mit der solistischen Stellung zusammen, warum auswendig gespielt wird. Ein Orchestermusiker, der seit 30 Jahren im Dienst ist, kann Beethovens 5. Sinfonie bestimmt auswendig, hat aber trotzdem Noten vor sich.
Ab und zu (leider sehr sehr selten) hört man mal ein Kammermusikensemble, das auswendig spielt, da hört man meiner Meinung nach schon einen Unterschied.

Jetzt ist es doch länger geworden als gedacht. Ich hoffe, meine Antwort ist nicht zu hart ausgefallen!
Schöne Grüße,
Booze

Hallo,

Danke für die ausführliche Antwort.

Da muß man ja vor jedem Dirigenten den Hut ziehen, wenn er ohne Partitur dirigiert und trotzdem nicht die Übersicht über die div. Einsätze veliert bzw. die Flöten ins Rennen schickt wenn eigentlich die Celli dran wären.

Wolfgang D.

Hi Booze,

ok, es sind natürlich viele subjektive Sachen, die ich schrieb, und ich stecke nicht im Gehirn jedes Pianisten. Ich gehe in erster Linie davon aus, dass ich schon ein optisches Hände-Tasten-Bild vor mir habe, wenn ich auf dem Klavier auswendig spiele, auch wenn ich nicht mehr bewusst jeden Finger auf jeder Taste wahrnehme, das erlaubt ja ein schnelles Stück nicht mehr.
Und einen einzelnen Melodieverlauf auf dem Cello konnte ich mir seit jeher einfach schlechter merken.

Du sprichst jetzt aber vom Kammermusiker, oder? Bei einem
Violinkonzert muss ich als Solist auch meine Pausen kennen und
dazu noch wissen, was das Orchester spielt.

Ein Solokonzert wird auch fast immer auswendig gespielt, oder? Auch von Melodieinstrumentlern. Mir fiel ehrlich gesagt, keine Vortragsart ein, bei der der Pianist auswendig spielt und die anderen nach Noten. Nur Soloabende. Und in denen spielt ein Pianist meist seine Stücke alleine und grundsätzlich auswendig, und der Geiger einfach oft eine Geige-Klavier-Sonate, was eigentlich ja schon Kammermusik ist.

Ich sehe meine Klaviertasten nicht so oft. Wenn ich auswendig
spiele schaue ich nicht ständig auf die Tasten, die würden
mich bloß verwirren :wink:

also ich schon… Hin und wieder an die Wand gegenüber, aber im Großen und Ganzen ist der Blick auf der Tastatur.

Beim Üben „lernen“ die Finger zunächst ja mal wo sie hin
müssen, das ist eher ein haptisches Lernen. Dazu kommt dann
noch das Erlernen des Notentextes. Aber die gedrückten Tasten
merke ich mir nicht optisch.

Ich denke, auswendig lernen ist haptisches, textliches, otisches UND auditives Lernen. Der eine kann das besser, der andere das. Ich kenne Leute, die immer den kompletten Notentext vor dem inneren Auge haben. Ich selber hab in erster Linie das Stück im Ohr, dann in etwa die Tasten vor Augen und „in den Fingern“ (also haptisch), erst zur letzten Absicherung (unbewusst) die Noten.

Das lässt sich einrichten, da habe ich schon sehr viel
erfindungsreiches gesehen.

Ach komm, nicht bei einer Liszt-Etüde, wo sollst du da blättern, und wo sollst du da hinschauen, wenn nicht auf die Tasten?

  • noch was zur Kammermusik: die ist oft so geschrieben, dass
    der Pianist nach Noten spielen kann. Da hat auch er mal
    Pausen, in denen er die Stimmen der anderen verfolgen muss, in
    denen er mal blättern kann.

Leider sind bei den meisten Stücken die Pausen nicht in
regelmäßigen zweiseitigen Abständen.

Das ist mir klar. Da behilft man sich mal mit kopierten 2 Zeilen, die angeklebt werden. Oder man lässt die rechte Hand weg für einen Takt, geht in der Kammermusik, solistisch nicht.

Es gibt Musiker, die spielen Musik des 20. Jh. auswendig, von
der ich auch nicht gerade behaupten würde, dass sie ins Ohr
geht.

Da wär ich mir aber nicht wirklich sicher, dass sie auch immer die „richtigen“ Töne spielen… :wink:

Das glauben meine Schüler auch immer, und beim nächsten
Vorspiel haut es sie an der erstbesten Stelle raus, weil sie
die Noten nicht im Kopf haben. Glücklich der, der das Stück
trotzdem durchbekommt.

Klar, man muss auch üben, Einstiegsstellen zu haben. Menschen sind ja unterschiedlich sicher. Tatsache ist aber, dass ein Pianist vergleichsweise locker an so einer Einstiegsstelle wieder reinkann, während ein Geiger, der eine Sonate mit Klavierbegleitung spielt, den Pianisten erst aufhören lassen müsste, dann müssten sie sich auf offener Bühne auf eine gemeinsame Einstiegsstelle einigen, die schon zu nennen auswendig schwer sein dürfte (wer weiß schon die Taktzahlen auswendig?).
Insofern hast du hiermit natürlich schon sehr recht:

Meiner Meinung nach hängt es nur mit der solistischen Stellung
zusammen, warum auswendig gespielt wird.

Ich glaube trotzdem nicht an das „nur“, aber auf ein „in erster Linie“ könnte ich mich einigen :wink:

Gruß
Judith

Hallo,

Danke für die ausführliche Antwort.

Da muß man ja vor jedem Dirigenten den Hut ziehen, wenn er
ohne Partitur dirigiert

Hab noch nie nen Dirigenten ohne Partitur dirigieren sehen. Was nicht heißt, dass er es nicht könnte. Nur wäre es in der Aufführung dann doch arg riskant

die div. Einsätze veliert bzw. die Flöten ins Rennen schickt
wenn eigentlich die Celli dran wären.

Wenn die Flöten aber keinen Einsatz in den Noten stehen haben, werden sie auch nicht spielen, da kann der Dirigent wedeln wie er will :smile:

Gruß
Judith

Wolfgang D.

Hey!

Also PIanisten sind nicht begabter als andere und ein professioneller Pianist übt nicht unbedingt mehr als ein Geiger.
Das Auswendigspiel wurde eingeführt von Franz Liszt, hatte tatsächlich den Hintergrund, dass es mehr Eindruck aufs Publikum macht, dem Interpreten mehr Freiraum gibt, als wenn er sich auf die Noten auch noch konzentrieren muss, und das es mal was neues war. :smile:
Jeder Solist spielt doch auswendig, oder? Zumindest wenn wir von den großen Bühnen der Welt ausgehen. :wink:
Wenn Kammermusik gespielt wird, also ein Duo, kenne ich es so, dass entweder beide auswendig spielen, oder eben nur der begleitete Part, wobei ersteres denke ich nur bei sehr eingespielten Duos zu empfehlen ist. Das Klavier spielt auch deshalb nicht auswendig, da es ohne Noten sehr schwer wäre einmal auszugleichen, wenn beispielsweise der Säger rauskommt, das fängt ja in der Regel der Korrepetitot auf, zumindest wenn es ein guter ist. :smile:
Orchestermusiker spielen meistens nicht auswendig, da es des öfteren vorkommt, dass man beispielsweise nur 1-2 Proben zur Vorbereitung und dann das Konzert hat, bei dem stets wechselnden Programm müsste also ein Orchestermusiker, sagen wir der Wiener Philharmoniker, schon eine ganze Menge an Repertoire konstant abrufbereit haben, ich persönlich halte das für schwer realisierbar.
LG