Hallo Rolf,
Mir ist als Gegenbegriff zu avidya (Unwissen) -
vidya (Wissen) bekannt. Zumindest sind das die
klassischen vedischen Begriffe. Wobei Wissen das
Wissen um die Einheit allen Seins darstellt und das
Unwissen eben dessen Verlust. So wird es auch in den
Upanischaden verstanden.
Zunächst einmal bedeutet skrt. ‚vidya‘ Wissen in allgemeinster Form - d.h. vor allem aus empirischer Erfahrung gewonnenes Wissen. ‚Vidya‘ kann auch im Sinne von ‚Fertigkeiten‘ verstanden werden - ein geschickter Handwerker etwa besitzt spezielles ‚vidya‘, das er übertragen und weitergeben kann. Drittens - als Bedeutungsübertragung der zweiten genannten Bedeutung - kann ‚vidya‘ bestimmte paranormale / yogische Fähigkeiten bezeichnen.
Im buddhistischen Kontext begegnet der Begriff ‚vidya‘ vor allem in tantrischen Schulen (also geschichtlich verhältnismäßig jungen(!) Entwicklungen), wo er esoterische Kenntnis bestimmter Praktiken (z.B. mantras) beschreibt.
Wenn in den Upanischaden von ‚vidya‘ die Rede ist, so ist damit ein spezielles, ‚spirituelles‘ Wissen gemeint - d.h. jedoch beileibe nicht, dass dies dasselbe ‚Wissen‘ ist, auf das sich Buddha mit seinen Lehren bezog. Ebenso, wie ‚vidya‘ in den Upanischaden eine spezielle, umgrenzte Art des Wissens bezeichnet, so bezeichnet ‚avidya‘ im Kontext des buddhadharma eine spezielle Art des Nichtwissens - nämlich die des Nichtwissens von den aryasatya, den vier edlen Wahrheiten. Wurzel dieses Nichtwissens ist eine kognitive Fehlhaltung - die Illusion von der Substanzhaftigkeit des Ich und der durch das Ich erfahrenen Phänomene. Hier - in der anatman-Lehre - liegt der entscheidende und unüberbrückbare Unterschied des buddhadharma (oder anatmavada) zu brahmanischen oder hinduistischen Heilswegen.
Dieses ‚avidya‘ ist nach buddhistischer Auffassung also nicht einfach Abwesenheit oder Mangel von Wissen, es ist ‚falsche Sicht‘ (ditthi), die unmittelbar zu karmischen Konsequenzen führt, da sie ein Handeln bewirkt, das auf falschen Voraussetzungen beruht. Insofern ist dieses ‚avidya‘ wesentlich als ein ethisches Nichtwissen zu verstehen. Geläufiger als der Begriff ‚avidya‘ ist daher der Begriff ‚moha‘, Verblendung oder Täuschung. Unmittelbar aus der kognitiven Fehlhaltung, aus moha heraus, entstehen die grundlegenden dualen Antriebe menschlichen Handelns - lobha (Gier, Lust, Anziehung) und dosa (Hass, Unlust, Abstoßung).
Zur Überwindung von avidya / moha wird der achtfache Pfad (astanga marga) gelehrt, der sich aus drei Aspekten zusammensetzt: sila (ethisches Handeln), dhyana (Geistesschulung) und prajna (Weisheit). So wie lobha und dosa avidya / moha nachgeordnet sind, sind sila und dhyana prajna nachgeordnet. So, wie moha eine spezielle Art von avidya ist, ist prajna eine spezielle Art von vidya, das eben dieses spezielle avidya überwindet.
prajna, bezeichnet dagegen laut Mandukya Upanischade,
einen der vier Zustände des Selbstes oder Brahmans. Es kann
also kein Gegenbegriff zu avidya sein, sondern
bezeichnet einen Zustand innerhalb von vidya.
Es ist wenig hilfreich, buddhistische Lehre mit Hilfe der Upanischaden erklären zu wollen. Mit seiner anatman-Doktrin steht der buddhadharma in direktem Gegensatz zu den Upanischaden - da gibt es kein beständiges ‚Selbst‘, keinen atman und auch keinen brahman. Er entstand und entwickelte sich zeitgleich und in Auseinandersetzung mit den mittleren und späten Upanischaden und hat seine eigene Terminologie. Gerade bei den älteren Upanischaden wiederum ist von einer einheitlichen (angeblich „klassisch vedischen“) Terminologie (die Buddha hätte übernehmen können) noch gar nicht zu sprechen.
Dies wird gerade bei der oben zitierten Aussage von Dir deutlich - zwar kennt auch der buddhadharma eine solche Vierzahl von brahmavihara (‚göttliche Verweilzustände‘ - nicht ‚Verweilzustände des brahma‘), jedoch gehört prajna mitnichten dazu - es handelt sich vielmehr um maitri, karuna, mudita und upeksha (liebende Güte, Mitleid, Mitfreude, Gleichmut). ‚prajna‘ hingegen gehört als oberste zum System der sechs (oder zehn) paramitas (der ‚Tugenden‘, der ‚Hinüberführenden‘); auch diese sind wie die brahmavihara im wesentlichen ethisch-moralische Qualitäten (die durch die Praxis des achtfachen Pfades entwickelt werden), nicht gnostische.
Buddha wird also diese beiden Begriffe im Sinne des Veda
verwandt und so beibehalten haben, da sich das auch mit seiner
ursprünglichen Lehre deckt.
Willst Du uns hier ernsthaft über die „ursprüngliche Lehre“ Buddhas belehren? Die kennst Du doch überhaupt nicht - und Du wirst sie durch das Studium von Aurobindos Schriften oder den Upanischaden auch nicht kennenlernen.
Freundliche Grüße,
Ralf