Hallo Tina,
Warum beißen also gerade sozialisierte Hunde
Hier müsste man erst mal klären, womit die Hunde sozialisiert wurden: Mit Menschen? Mit Artgenossen? Mit Umweltreizen? Mit Kompositionen aus allem?
Straßenhunde sind beispielsweise in der Regel hervorragend mit Artgenossen sozialisiert, haben aber entweder keine oder eine negative Sozialisation mit Menschen erfahren. Untersuchungen zeigen übrigens, dass eine negative Sozialisation später meist besser handlebar ist, als eine fehlende, weil der Hund zumindest gelernt hat, das Sozialisationsobjekt überhaupt einzuschätzen. Insofern greift die Vermutung vieler Hundebesitzer, der Hund habe schlechte Erfahrungen gemacht, meist ins Leere. Diesbezüglich schwierige Hunde haben in der Regel gar keine Erfahrung gemacht.
Zum anderen wäre zu klären, welche Erwartungen an das Verhalten man an eine erfolgreiche Sozialisation knüpft. Viele Hundebesitzer glauben beispielsweise, dass eine Welpengruppe und ausreichend Kontakt zu anderen Hunden in der Welpenzeit verhindern, dass der Hund später mit Artgenossen rauft oder ganz unverträglich ist.
Spätestens nach den ersten herzhaften Raufereien im Halbstarkenalter stehen sie dann frustriert und hilflos vor ihrem Hund, der sich mitnichten so friedfertig zeigt, wie sie erwartet haben. Andere haben Hunde, die auf Grund züchterischer Einwirkung auch im Erwachsenenalter stark welpenhaftes Verhalten zeigen und aus diesem Grund immer wieder von anderen Hunden attackiert werden. Dass die eigentliche Verhaltensstörung hier beim Hund mit dem Welpenverhalten liegt, wird dabei gerne übersehen. Stattdessen betrachtet man ihn als gut und die anderen Hunde als schlecht/ nicht sozialisiert.
Sozialisierung - womit auch immer - dient lediglich dem Zweck, dem Hund ein grundlegendes Handwerkszeug in Sachen Umgang damit zu vermitteln. Hunde lernen im Umgang mit Artgenossen die gesamte Bandbreite an Kommunikation zu verstehen und anzuwenden. Zu dieser zählen Drohgesten ebenso wie Beschwichtigungsverhalten. Im Umgang mit Menschen lernen sie (im besten Fall), dass diese nicht gefährlich sind und angenehme Dinge, wie Futter und Streicheleinheiten, von ihnen zu kriegen sind.
nicht besser den Hund anders oder gar nicht so sozialisieren?
Sozialisiert man den Hund nicht, fehlen ihm sämtliche Grundlagen zur Kommunikation. Da diese nur in einer bestimmten sensiblen Phase ausreichend gelernt werden können, entstünde hier ein nicht mehr wieder gut zu machender Schaden, der ein Zusammenleben dieses Hundes mit Artgenossen und/oder Menschen mindestens extrem erschwert, oft sogar unmöglich macht.
Wo sind die Fehler bei der Sozialisierung
In der Hauptsache in der falschen Erwartung, die an einen gut sozialisierten Hund gestellt werden. Fakt ist: Ein Hund ist ein Hund ist ein Hund. Als solcher wird er immer auch arttypisches Verhalten zeigen. Zu diesem Verhalten gehört auch die Aggression als überlebensnotwendiger Bestandteil der Spezies Hund.
Ein gut sozialisierter Hund hat gelernt, seine Kommunikation so zu differenzieren, dass er mit der geringst möglichen bzw. nötigen Stufe der Aggression beginnt, wenn er in eine Konfliktsituation gerät. Hier liegt im Umgang mit Menschen bereits das große Problem, dass viele Hundebesitzer (und Kinder besonders) nicht in der Lage sind, die „Frühwarnstufen“ eines Hundes zu verstehen.
Nahezu alle Hunde, die scheinbar „unvermittelt“ oder „grundlos“ beißen, haben ausreichend vorgewarnt. Sie sind in Körperhaltung und Mimik erstarrt, haben drohfixiert oder die Lefzen gekräuselt. Viele haben sogar geknurrt. Nachdem all das nicht ausgereicht hat, um das menschliche Gegenüber davon abzuhalten, mit dem weiterzumachen, was es gerade getan hat, folgt die finale Stufe der Aggression: Der Hund beißt.
Und das, obwohl er hervorragend sozialisiert ist. Das Pech ist, dass der bestsozialisierte Hund keine Chance hat, wenn er an einen Menschen gerät, dem die notwendige Sozialisation mit dem Hund fehlt.
Viele Hundebesitzer glauben, ein Familienhund müsse alles mit sich machen lassen, weil er ja schließlich gut sozialisiert sei. Dabei übersehen sie, dass sie es mit einem (sozialen) Raubtier zu tun haben und nicht mit einer programmierten Computer.
So wie ein gut sozialisierter Mensch über eine Vielfalt von Kommunikationsmöglichkeiten verfügt, um sich auseinanderzusetzen, aber dennoch deswegen nicht zwangsläufig frei von aggressiven Verhaltensweisen ist, ist das auch beim Hund. Bei diesem zeigt sich die Aggression artbedingt nur unmittelbarer.
Hinzu kommt, dass jeder Hund auch gewisse genetische Grundlagen mitbringt. Da Rassehundezucht eine Selektion auf bestimmte Fähigkeiten ist, muss man der Tatsache Rechnung tragen, dass eine entsprechende Auswahl über viele Generationen hinweg auch ihre Konsequenzen im Verhalten hat. So sind viele Kampfhunderassen, deren Lebenszweck über lange Zeit darin bestand, mit anderen Hunden zu kämpfen, eben nicht ohne weiteres per Sozialisation zu hundeliebenden Spielmonstern umzupolen. Ebenso wenig kann man von einem Jagdhund erwarten, dass ihn Beute nicht interessiert. Auch wenn es in beiden Fällen natürlich individuelle Ausnahmen gibt.
oder ist die Sozialisierung generell überholt?
Ganz sicher nicht. Entscheidend ist aber, dass der Mensch begreift, was Sozialisation kann und was nicht.
Schöne Grüße,
Jule