Umgangsformen sind wieder im Kommen…
Hallo Bernd,
ist der Wunsch Deiner Freundin wirklich soooo entsetzlich??? 
Mit meinen 30 Jahren bin ich ganz gewiss kein hilfsbedürftiges Mütterchen, trotzdem finde es schön, wenn mir mein Liebster in den Mantel hilft, die Tür aufhält oder Feuer gibt, obwohl ich durchaus in der Lage bin, das alles selbst zu bewältigen. Das tut er übrigens grundsätzlich und nicht nur bei mir. Gerade weil wir Frauen es im Berufsleben heutzutage nicht ganz einfach haben und häufig mit harten Bandagen kämpfen müssen, empfinden wir es als sehr angenehm, wenn uns wenigstens unsere Männer verwöhnen.
BTW: mir persönlich sind bisher keine Frauen begegnet, die sich partout geweigert hätten, sich z. B. von meinem Süßen in den Mantel helfen zu lassen. Außerdem habe ich gerade ein bißchen überlegt und stellte fest, daß eigentlich alle Männer aus meinem Umfeld diese uralten Traditionen nach wie vor pflegen. Natürlich kommen meine Jungs im Büro nicht jeden Morgen vereint angeschossen, um mir den Mantel abzunehmen. Das kriege ich gerade noch so hin (sofern ich überhaupt den Mantel mithabe).
Den Knigge und anderes zum Thema gibt es natürlich auch online. Hier ein paar Beispiele:
http://gutenberg.aol.de/knigge/umgang/umgang.htm (das ist übrigens der echte Knigge, also alles noch im O-Ton von Anno achtzehnhundertfeuerstein
http://userpage.fu-berlin.de/~kbartels/links/umgangt…
http://www.vanhasselt.de/presse/pr_umgang.htm
Wenn ich aus der letztgenannten Quelle mal kurz zitieren darf:
‚Auch im Jahr 2000 stehen Kavaliere hoch im Kurs. Das beweist eine von „Stil und Etikette“ beim Emnid-Institut, Bielefeld, in Auftrag gegebenen Repräsentativ-Umfrage. Die meisten traditionellen Kavaliersgesten werden von bis zu 95,8 Prozent (!!!) der Deutschen als zeitgemäß empfunden.‘
Die Zahl sagt doch eine ganze Menge aus, oder?
Und hier noch etwas zum Schmunzeln:
Seit ihrem in der Bibel dokumentierten Ursprung aus der Rippe Adams ging Eva einen langen Weg. Nach dem Zeitalter des Lockens und Verführens folgte das Zeitalter turbulenten Kampfes um die Gleichberechtigung. Heute sind die Frauen allerdings ganz neuen Härten ausgesetzt. Zu denen zählen auch die modernen Umgangsformen, die von einem einschlägigen Arbeitskreis formuliert worden sind.
Wenn Besuch ins Büro kommt, bleibt die Eva von heute nicht einfach huldvoll lächelnd in der Bluse sitzen. Sie springt stattdessen auf, rafft die Jacke über, knöpft sie zu und tritt dem Gast entgegen. Tapfer schwitzt sie ihre Jacke in Sitzungen und Verhandlungen durch, denn ausziehen soll sie das Teil nie und aufknöpfen nur, wenn sie Platz nimmt. Eva muss Adam modisch perfekt spiegeln: Kommt er im blauen Anzug, erscheint sie im blauen Kostüm. Seit Menschengedenken fordert sie die gleichen Rechte - jetzt trägt sie seine Stoffe und Schnitte. Parfümwolken, baumelnder Schmuck und freizügig dargebotene Haut und Körperkurven passen nicht gut in diese neue Welt. Im gesellschaftlichen Umgang soll die moderne Frau von Welt ihren Sex-Appeal eindampfen bis fast zum Quasi-Zwittertum. Selbstverständlich, dass sie dem Herrn durchaus auch aus dem Mantel helfen kann, ihm auf der Treppe vorangehen, bei Tisch für ihn bestellen und zahlen kann. Zimperlieschen bleiben lieber zu Hause: Werden nämlich Hände geschüttelt, soll die Frau von heute zupacken wie ein Kerl. Schraubstockgriffe anderer müssen ohne Handschuh und natürlich auch ohne Murren ertragen werden. Zart hingehauchte Handküsse kann die moderne Eva höchstens noch bei einer Gala erwarten. Und ebenfalls nur dort darf sie damenhaft sitzen bleiben, wer oder was auch komme. Für das richtige Leben aber gilt eisern die Regel: Beim Begrüßen steht jede vor jeder und jedem auf.
Vom stillen Örtchen abgesehen, finden die neuen Benimmregeln in alle Lebensbereiche Eingang. Aus diesem Grund werden diese modernen Umgangsformen von einer Trainerin in den Seminaren in ihre nimmermüden Gäste hineingestopft. Am Smalltalk wird ebenso gefeilt, wie an Ansprachen, am Begrüßen und Vorstellen und an den Tischsitten. Auch Anrede, Körpersprache und Outfit gehören dazu. Die Pressedame einer Bundesbehörde übt sich darin, hohen Besuch in einen Stehempfang einzuweisen, eine Marketing-Assistentin eines Fünf-Sterne-Hotels übt Gesprächstechnik. Eine Hausverwalterin, der bohrende Fragen nicht liegen, trainiert vor laufender Kamera. Aus dem Stand hält eine Industriellengattin die Tischrede, vor der sie stets Angst hatte.
Die Trainerin des Seminars hat den Trend längst erkannt: Neben den Führungskräften streben vor allem auch Leute aus dem zweiten und dritten Glied nach der „Kunst des gewandten Auftretens“ - darunter immer mehr Frauen. Das liegt wohl daran, dass auch Frauen heute immer häufiger ernüchternde Erfahrungen machen. Die Dame von der Maklerfirma drückt sie kurz und bündig so aus: „Erst kommt die Persönlichkeit, dann das Fachwissen.“
(nach: Rita Mohr, Androgyne Umgangsformen, in: Süddeutsche Zeitung vom 01.04.2000 Bildung und Beruf; verändert und gekürzt)
‚Beuge‘ Dich ruhig dem Wunsch Deiner Freundin, Du befindest Dich in bester Gesellschaft.
Viele Grüße
Tessa