Hallo Metapher,
herzlichen Dank für deine schnelle und ausführliche Antwort! Sie gibt ziemlich genau meinen eigenen Verständnishorizont wieder, bleibt aber leider da stehen, wo meine Frage eigentlich erst anfängt (was nicht deine Schuld ist!!).
Drehimpuls, Trägheitsmoment, Vektoren, Präzession etc. sind alles für mich schon bekannte Begriffe, ich bin (du fragtest indirekt danach) Diplomingenieur der Elektrotechnik/Nachrichtentechnik mit Diplomnote 1,2 an einer der heutigen „Elite-Unis“ - nur um meinen Hintergrund kurz darzulegen.
Ich werde einfach mal meinen Gedankengang hier „ausspeichern“ und hoffe, du (oder wer auch immer das noch liest) kannst es nachvollziehen:
Als ich in der Physikvorlesung des Grundstudiums mit der Präzession konfrontiert wurde, fand ich es schon erstaunlich, dass beim Kreisel (ich komme wieder auf meinen Fahrradfelgen-Kreisel zurück, der nur an einer Seite der Achse aufgehängt ist) die Radachse nicht in die Richtung kippt, in die sie (von der Gravitation) gezogen wird, sondern in eine 90 Grad versetzte Richtung, so dass der Kreisel aufrecht bleibt, weil die Achse waagerecht bleibt. Besonders erstaunt war ich über die qualitative Erklärung hierzu (wie ja auch du geschrieben hast), dass nämlich die Radachse horizontal kippt statt nach unten (also 90 Grad versetzt), *sobald sich das Rad dreht*.
Da musste ich kurz einhalten: „…sobald sich das Rad dreht“. „Und wie schnell muss es sich drehen“, frag(t)e ich mich, und dies ist auch Kern der Frage, die ich hier Stelle: Ist diese Erklärug nicht zu undifferenziert? Diese Erklärung sagt ja nichts über die Drehgeschwindigkeit aus, sie sagt streng genommen: Auch bei gaaaanz langsamer Drehung, z.B. 1 Umdrehung/Stunde, müsste der qualitative Kreiseleffekt auftreten und der Kreisel stabil bleiben, d.h. die Radachse müsste 90 Grad zur Senkrechten (also waagerecht) kippen. Experimentell wird man aber feststellen, dass dies nicht der Fal ist - der Kreisel wird sich bei so langsamer Rotation so verhalten, als ob er gar nicht rotiert. D.h., die Radachse kippt in diesem Fall nicht waagerecht (90 Grad zum Gravitationsfeld) sondern nach unten (0 Grad). Interessant, es gibt also den Fall „Radachse kippt sauber nach 0 Grad“ und „Radachse kippt sauber nach 90 Grad“. Und was ist mit den Werten dazwischen? Intuitiv meint man doch (und ich glaube das wurde auch als generelles Naturgesetz schon mehrfach formuliert), dass in der makroskopischen Physik (also nicht in der Quantenphysik) alle Effekte durch stetige Funktionen ohne Sprungstellen beschreibbar sind. Das würde aber bedeuten, dass nicht nur eine Kipprichtung der Radachse von 0 Grad oder 90 Grad möglich sein müsste, sondern dass bei niedrigen bis mittleren Rotationsgeschwindigkeiten auch ein Übergangsbereich mit anderen Kipprichtungen (oder irgendwie anderem Kippverhalten) existieren müsste.
Wenn dem so ist, gibt es dann Formeln, die das quantitativ beschreiben? Eine ganz konkrete Fragestellung wäre z.B. diese:
Gegeben ist ein idealisierter „Radfelgenkreisel“, beschrieben durch die Größen „Speichenmasse=0, Achsenmasse=0, Felgendicke=0, Felgenbreite=0, Felgenmasse=m (homogen über den Radius verteilt), Reibung=0, Radradius=r, Drehgeschwindigkeit=omega, Abstand des Aufhängepunktes der Achse vom Achsen-Mittelpunkt=a und Gravitation=g“, und nun möchte ich die Winkel theta und phi (Elevation und Azimuth) der Radachse über die Zeit auftragen: phi(t), theta(t). Wie sieht phi(t) und theta(t) aus, in Abhängigkeit von der Rotationsgeschwindigkeit omega? Wir nehmen o.B.d.A. an, dass zum Zeitpunkt t=0 gilt: phi(0)=0°, theta(0)=90° (theta=0° [180°] heißt das freie Ende der Radachse zeigt nach oben [unten]). Nun gibt es zwei Spezialfälle, (1.) omega=0, also keine Rotation, und (2.) omega–>infinity, also sehr hohe Rotation. Gemäß „qualitativer Erklärung der Präzession“ gilt dann ganz klar:
Im Fall (1.): phi(t)=0=const, und theta(t)=90…180…270-…180…90… Grad (also eine Pendelbewegung).
Im Fall (2.): theta(t)=0=const, und phi(t)=const*t, also eine lineare Funktion der Zeit (gleichförmige Kreisbewegung), Präzession.
Meine Frage: Die „qualitative Erklärung der Präzession“ sagt nun, sobald sich das Rad dreht, haben wir Fall (2.). Das glaub ich aber nicht. Ich danke, das gilt nur für omega–>infinity. Für endliche omegas müssen sich andere Funktionen phi(t) und theta(t) ergeben, denn sonst hätten wir es mit einer unstetigen makroskopischen Physik zu zun, denn sobald omega ein kleines Bisschen ungleich Null wäre, würde der Fall (1.) in den Fall (2.) wechseln.
Meine Frage nun lautet, ob das so stimmt, und ob die Funktioen phi(t) und theta(t) berechnet werden können, und wenn ja, wie diese lauten.