Liebe Anja,
als erstes möchte ich einmal zum Ausdruck bringen, dass es mir sehr Leid tut, dass deine Beziehung aus den Fugen geraten ist und du nun vor einem Haufen aus Scherben und Fragen stehst.
Als erstes möchte ich einmal auf deinen Freund eingehen:
Es scheint, als stecke er in einem mentalem Tief. Als Auslöser dafür sehe ich in erster Linie den nicht verarbeiteten Tod seines Vaters, der widerrum mit für ihn schlecht zu bewältigenden Faktoren bestückt ist. Jeder Mensch verarbeitet Trauer, die übrigens auch manchmal Wut und Zorn durch Hilflosigkeit verknüpft ist, anders. Es ist dann, selbst als für ihn eigentlich nahestehender Mensch, sehr schwer, an ihn heran zu kommen. Diese Menschen versuchen den Kampf mit sich selbst auszufechten. Oftmals glauben sie auch, es würde sie eh kein anderer verstehen. Wie du selbst geschildert hast, kam er auf dich zu, wenn er es brauchte. Dies waren Momente, in denen er selbst im Inneren gemerkt hat, das es dich auch noch in seinem Leben gibt. Er hat vermutlich weniger an die Geschehnisse des Vorjahres gedacht und musste einfach auch einmal „Kraft tanken“. Dieses unausgesprochene, innere Gefühlschaos ist sehr Kräftezehrend.
Die Beweggründe für sein Aufgeben des Staatsexamens und die Übernahme der Werft können unter anderem daher rühren, dass er vielleicht für sich entschieden hat, den für ihn in jenem Moment leichteren Weg zu gehen.
Was er allerdings als realistisch eingeschätzt hat, ist, dass er im Moment keine Beziehung haben kann und seine Gefühle zu dir nicht einordnen kann. Sicher, dies ist für dich kein Trost - doch zumindest war er ehrlich und hat nicht nur gute Mine zu bösem Spiel gemacht.
Weiter schriebst du, er wäre zu Besuch bei einem Freund, anstatt zu lernen. Nun, er scheint es wohl ernst gemeint zu haben, was sein Examen betrifft. Zumindest sieht es allem Anschein danach aus, dass er diesen Weg eingeschlagen hat, es nicht zu machen. Was den Besuch angeht: Vielleicht braucht er einen „Tapetenwechsel“. Er musste eventuell aus dem alten Muster entfliehen (wenn auch nur für eine gewisse Zeit), um wieder Luft zu bekommen. Wir alle kennen das: Wenn uns etwas über den Kopf wächst, suchen wir automatisch nach einer Ablenkung. Sei es in Form einer anderen Beschäftigung, mit anderen Menschen treffen, oder gar ein Wechsel der Stadt.
So, nun zu deiner eigentlichen Frage:
Ich verstehe dich absolut. Auf der einen Seite möchtest du, da es ihm scheinbar gut tut und wichtig ist, seinen Freiraum geben. Doch ich DENKE auf der anderen Seite hast du Angst, das die Distanz zwischen euch grösser wird, je länger sie Anhält.
Da dein Freund in einem Konflikt mit den Geschehnissen und sich selbst steckt, wird er vermutlich immer weiter auf Abstand gehen, je mehr du ihn drängst.
Mein Rat wäre, da du ihm sicher gerne viel erklären und mitteilen möchtest, wie du für ihn empfindest, was für Ideen du für einen „Neustart“ hättest usw., dass du ihm einen Brief schreibst. Meine Erfahrung mit Menschen (und es war durch meinen Beruf sehr, sehr viel Psychologie im Spiel), zeigte, dass ein Brief fast immer gelesen wird. Das kommt alleine schon daher, das die Neugierde es die Menschen tun lässt. Dieser Brief kann auch mehrmals gelesen werden. Umso klarer wird die eigentliche Botschaft darin. Briefe werden meist gelesen, wenn die Menschen Ruhe haben und allein sind. Die sonstige Diskussion bleibt somit aus. Du könntest ihn bitten, sich zumindest einmal zu melden, da du dich sorgst. Vermeide auf jeden Fall Vorwürfe. Auch Vorhaltungen, was du alles für ihn gemacht hast etc. würde ich ganz weglassen. Sonst ist dein Kampf um ihn zum scheitern verurteilt, da er sich weiter distanzieren würde. Schreibe, wie sehr du ihm jetzt den Rücken stärken, zuhören und eine helfende Hand reichen würdest. Ich denke, du weißt, worauf ich hinaus möchte. Leider ist es so, dass es kein Wunderrezept dafür gibt, wieder zueinander zu finden. Und leider ist auch die Zeit nicht immer des Menschen bester Freund. Man denkt, sie spielt gegen einen. Warten wird zur Qual und jeder Tag ohne jegliche Form von Kontakt zur Hölle. Doch du machst es schon richtig: Gib ihm diese Zeit. Auch, wenn es dir wie eine Ewigkeit vorkommen mag. Versuche dir vor Augen zu halten, egal für welchen Weg er sich entscheidet: Lass ihn diesen gehen. Aus Liebe zu ihm, weil es ihm gut gehen soll.
Solltest du noch mehr auf dem Herzen oder weitere Fragen haben: Wende dich gerne an mich.
Kopf hoch 
Ganz liebe Grüsse
Niki