Bildung Konjunktiv II in der Vergangenheit

Hallo,

es geht um die Frage, was mit dem Konjunktiv II geschieht, wenn das Erzähltempus vom Präsens ins Präteritum überführt wird. Als Beispiel der folgende Absatz:

„Hans denkt über das Risiko nach. Was sollte er tun, wenn die Sache schiefginge? Er müsste alles hinter sich lassen und irgendwo ein neues Leben beginnen. Müsste den Kontakt zu seiner Familie abbrechen. Peter würde ihn fürs Erste verstecken. Dazu könnte Hans ihn überreden, und natürlich würde er sich erkenntlich zeigen. Doch sein Leben würde nur noch im Verborgenen stattfinden. Tief in seinem Herzen weiß er, dass er das nicht ertrüge.“

Und jetzt die Präteritum-Variante:

„Hans dachte über das Risiko nach. Was hätte er tun sollen, wenn die Sache schiefginge? Er hätte alles hinter sich lassen und irgendwo ein neues Leben beginnen müssen. Hätte den Kontakt zu seiner Familie abbrechen müssen. Peter hätte ihn fürs Erste versteckt. Dazu hätte Hans ihn überreden können, und natürlich hätte er sich erkenntlich gezeigt. Doch sein Leben hätte nur noch im Verborgenen stattgefunden. Tief in seinem Herzen wusste er, dass er das nicht ertragen hätte.“

Das klingt schräg. Ist es trotzdem richtig? Oder falls nicht, wie müsste es richtig lauten?

Für mich klingt das richtig mit der Einschränkung, dass die erste Version die Überlegung vor den Ereignissen ist und die zweite Version die Überlegung im Rückblick.

1 Like

Ok, danke. Vielleicht stört mich bei der zweiten Variante auch nur der inflationäre Gebrauch von „hätte“.

dann hätte dich das inflationäre „müsste und würde“ aber auch stören :wink:

In der zweiten Variante hast du einen „Zeitfehler“ - wenn er rückwirkend nachdenkt, kannst du schiefginge nicht verwenden - „schiefginge“ ist Zukunft :wink:

„Was hätte er tun sollen können, wenn die Sache schief gegangen wäre …“

Dann klingt es nicht mehr so schräg

1 Like

@„müsste und würde“: Stimmt, fair ist fair. :grin:
@schiefginge: Das ist mir tatsächlich durch die Lappen gegangen, danke.

1 Like

Hallo!

im Deutschen gibt es drei Vergangenheitsformen: Perferkt, Präteritum und Plusquamperfekt. Im Konjunktiv II gibt es nur eine einzige Vergangenheitsform. Diese Vergangenheitsform wird mit Hilfe vom Plusquamperfekt, Umlaut und die Endungen (e, est, e, en, et, en) verwirklicht.
Ich hätte gemacht, du hättest gemacht usw.
Ersatzweise kann man auch die Vergangenheitsform mit (würden + Partizip II + sein oder haben bilden

Ich würde getan haben oder eben
ich würde gegangen sein.

„Hans denkt über das Risiko nach. Was sollte er tun, wenn die Sache schiefginge? Er müsste alles hinter sich lassen und irgendwo ein neues Leben beginnen. Müsste den Kontakt zu seiner Familie abbrechen. Peter würde ihn fürs Erste verstecken. Dazu könnte Hans ihn überreden, und natürlich würde er sich erkenntlich zeigen. Doch sein Leben würde nur noch im Verborgenen stattfinden. Tief in seinem Herzen weiß er, dass er das nicht ertrüge.“

Hans dachte über das Risiko nach. Was hätte er tun sollen, wenn die Sache schiefginge? Er hätte alles hinter sich lassen und irgendwo ein neues Leben beginnen müssen. Hätte den Kontakt zu seiner Familie abbrechen müssen. Peter hätte ihn fürs Erste versteckt. Dazu hätte Hans ihn überreden können, und natürlich hätte er sich erkenntlich gezeigt. Doch sein Leben hätte nur noch im Verborgenen stattgefunden. Tief in seinem Herzen wusste er, dass er das nicht ertragen hätte.“

Grüße

Es geht ja nicht bloß um Konj. II, mit dem du dort etwas tun zu müssen meinst: Es ist speziell Konj. II Futur I, und zwar mit Transformation in indirekte Rede.

Dazu kommt, daß Futur I meist als Präsens formuliert wird wird („was werde ich tun, wenn es regnen wird“ → „was tue ich, wenn es regnet“). Dasselbe bei Konj. II Futur I als Konj. II Gegenwart („würde stattfinden“ → „fände statt“). Es kommt aber noch dazu, daß Konj. II Fut. I formal nicht vom sog. Ersatzkonjunktiv II unterscheidbar ist („er weiß, daß er das nicht ertragen würde“ = Konj. II Futur I oder Ersatzkonj.) Daß obendrein noch Modalverben eine Hauptrolle spielen und daß insbesondere „sollen“ eh einen Zukunftsaspekt (→ Prospektiv) haben kann, kommt dann nur noch als Kirsche auf dem Sahnehäuptchen hinzu.

Da du in der ersten Version („denkt nach“) Konj. II Futur I durch Konj. II Gegenwart ersetzt hast („würde müssen“ → „müsste“) außer zwei Fällen, die du mutmaßlich als Ersatzkonjunktiv II auffasst, solltest du das durchgängi tun. Also auch

Doch sein Leben fände nur noch im Verborgenen statt.

statt

Doch sein Leben würde nur noch im Verborgenen stattfinden.

Man kann die ganz Passage allerdings auch statt Konjunktiv II Futur als prospektiven Aspekt interpretieren, der ja mit „sollte“, „würde“ oder „dürfte“ gebildet wird. („Die Aufgabe sollte zu lösen sein“; „Das würde ihm nochmal sehr leid tun“; „Das dürfte schief gehen“). In dem Fall würde der erste Satz lauten

Was würde er tun müssen, falls die Sache schiefgehen sollte?"

Oder eben:

Was müsste er tun, falls die Sache schiefgehen sollte?"

In diesem Fall kann man die Futurformen nicht in Präsensformen verschieben. Es könnte nicht z.B. „würde müssen“ durch „müsste“ ersetzt werden. Sonst ginge der Prospektiv verloren und es bliebe nur ein Irrealis übrig.

Nun steht der ganze Text zunächst eingeleitet durch das präsentische

Hans denkt nach"

Nicht unterscheidbar, ob das aktuelles Präsens ist, also Gegenwart des Erzählens mit dem Gedanken an Zukünftiges, oder episches Präsens, also Gegenwart erzählter Vergangenheit mit dem Gedanken an Zukünftiges in der erzählten Vergangenheit.

Im letzteren Fall kann man natürlich zum Präteritum übergehen und damit zur „Normalform“: erzählter Vergangenheit

Hans dachte nach:

ABER:
Hier kommt alleine das Nachdenken ins Präteritum, aber doch nicht der Inhalt des Gedankens! Auch nicht, wenn er in indirekter Rede präsentiert ist.
Die direkte Rede würde ja lauten:

Hans dachte nach: „Was würde ich tun müssen, falls die Sache schiefgehen sollte?“

Dann ist doch klar, daß auch die indirekte Rede lautet:

Hans dachte nach, was er würde tun müssen, falls die Sache schiefgehen sollte?"

D.h. es gibt gar keinen Grund, die indirekte Rede ins Plusquampperfekt zu setzen. Denn das, worüber er nachdenkt, liegt ja nicht in der Vergangenheit dieses Nachdenkens, sondern in dessen Zukunft, und zwar in dessen lediglich eventueller Zukunft.

Das Plusquamperfekt läge an, wenn Hans erzählen würde von einer vergangenen Situation des Nachdenkens über etwas in der Vergangenheit.dieses Nachdenkens:

Hans erzählte, er habe damals nachgedacht was er denn hätte tun müssen, wenn die Sache schiefgegangen wäre …"

Gruß
Metapher

6 Like

Danke für die umfangreiche Antwort! Ich frage mich, ob das, was in meinem Textbeispiel nach „Hans denkt/dachte über das Risiko nach“ kommt, tatsächlich indirekte oder nicht vielmehr erlebte Rede ist. Und hätte das Einfluss auf die Tempuswahl?

Für die verschiedenen Varianten von Nebensatzstrukturen und zugehörigen Tempora bei der Umsetzung direkte → indirekte Rede gibt es → hier eine Auflistung.

Was du hier mit „erlebte Rede“ meinst, ist mir nicht klar. Wo immer eine wörtliche Wiedergabe einer Rede (oder eines Gedankens) in die eigentliche Erzählebene eingebettet ist, sollte diese in Anführungstrichen stehen. Und das Tempus hängt dann allein von deren Inhalt ab.

Falls du soetwas wie „innerer Monolog“ meinsr, oder gar den → „Bewusstseinsstrom“ (dazu etwas z.B. → hier): Dabei gibt es zahllose Möglichkeiten der Tempuskomposition …

Gruß
Metapher

Hallo,

vielleicht das hier Beschriebene?

Gruß
Kreszenz

1 Like

Danke dir für den Schubs! Ich hatte es nicht als Terminus auf dem (inneren :wink:) Schirm.

Die erlebte Rede steht formal zwischen direkter und indirekter Rede, zwischen Figurenmonolog und Erzählerbericht. Dorrit Cohn definiert sie als Wiedergabe der Gedanken einer Figur unter Beibehaltung des Erzählrahmens, das heißt, Beibehaltung des Erzähltempus (meist episches Präteritum) und der Erzählerperspektive (Cohn, Dorrit: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton, N. J. 1978).

Das macht quasi den „dual-voice“-Charakter der erlebten Rede aus: Sie ist „ein Ort, wo die Stimme des Erzählers und die der Figur interferieren“ (Zhou, Xiaomin: Erlebte Rede in der literarischen Übersetzung – am Beispiel von Robert Musil, Franz Kafka und Lu Xun. Heidelberg 2021, S. 35). Sie hebt die Distanz zwischen Erzähler und Figur nicht auf, verringert sie aber: der Erzähler gibt die Innensicht der Figur unmittelbar wieder, bleibt jedoch spürbar durch die Verwendung der dritten Person. (Wobei nicht unumstritten ist, ob die Beschränkung auf die dritte Person gerechtfertigt ist, vgl. Zuschlag, Katrin: Narrativik und literarisches Übersetzen: erzähltechnische Merkmale als Invariante der Übersetzung. Gunter Narr Verlag, Tübingen 2002.) Dadurch unterscheidet sich die erlebte Rede vom Inneren Monolog und vom Stream of Consciousness.

Was mich beschäftigt, ist die grammatische Umsetzung. Die erlebte Rede kennzeichnet sich dadurch, dass die Wortstellung identisch ist mit der der direkten Rede, dass jedoch die dritte Person Singular (Zuschlags Einwände einmal unberücksichtigt gelassen) sowie das Erzähltempus des Erzählrahmens beibehalten werden.

In der Praxis sieht das wie folgt aus:

„War das Glück ertragbar, wie sie fast jeden Abend dort anwesend sein zu dürfen? Könnte er nur einmal in der Woche vor Beginn der Aufführung einen Blick in den Saal tun, das Stimmen der Instrumente mal hören und ein wenig den geschlossenen Vorhang mal ansehen! […]“
(Thomas Mann: Buddenbrooks)

„Nach dieser Erklärung würde die Schwester in Tränen der Rührung ausbrechen, und Gregor würde sich bis zu ihrer Achsel erheben und ihren Hals küssen, den sie, seitdem sie ins Geschäft ging, frei ohne Band oder Kragen trug.“
(Franz Kafka: Die Verwandlung)

Bei beiden Beispielen frage ich mich, auch in Bezug auf mein Beispiel vom geplagten Hans, ob der Konjunktiv II grammatisch korrekt nicht ebenfalls in der Vergangenheit stehen müsste, gemäß dem Präteritum des Erzählrahmens:

„War das Glück ertragbar […]? Hätte er nur einmal in der Woche vor Beginn der Aufführung einen Blick in den Saal tun können […].“

„Nach dieser Erklärung wäre die Schwester in Tränen der Rührung ausgebrochen […].“

Oder nicht?

Zugegeben, es ist etwas tricky. Deshalb hab ich - sorry - einige Ausdrücke in fett gesetzt, um mögliche Missverständnisse zu umgehen:

… und somit auch zwischen indirekter Rede und Bewusstseinsstrom. Du zitierst aber selbst

Das bedeutet: In der erlebten Rede ist die Gegenwart ihres Subjektes immer auch die Gegenwart der erzählten Vergangenheit, gleich, ob diese im epischen Präsens oder im epischen Präterizum formuliert ist. Das heißt, das Subjekt der erlebten Rede spricht (obwohl in der 3. Person) einen - bezüglich der Gegenwart der erzählten Vergangenheit - gegenwärtigen Gedankengang aus.

Wenn du beim Wechsel von epischem Präsens zu epischem Präteritum dann in der erlebten Rede von deren ursprünglichem Tempus deren Konjunktive - insbesondere, wenn das futurische Konjunktive sind - ins Plusquamperfekt transponierst, dann hat diese nicht mehr denselben Inhalt.

Dein Beispiel:

„War das Glück ertragbar, […] Könnte er nur einmal in der Woche vor Beginn der Aufführung einen Blick in den Saal tun,"

Hier sprichtr er von einem Wunsch, der zum Zeitpunkt der Rede noch nicht in Erfüllung gegangen ist.
Aber hier

„War das Glück ertragbar […]? Hätte er nur einmal in der Woche vor Beginn der Aufführung einen Blick in den Saal tun können […].“

sagt er lediglich, daß er einmal den Wunsch hatte, daß es also schlicht bisher nicht so gewesen ist. Daß er zum Zeitpunkt des Sprechens den Wunsch nach Zukünftigem hat, ist dabei verlorengegangen.

Dasselbe noch deutlicher:

„Nach dieser Erklärung würde die Schwester in Tränen der Rührung ausbrechen,

Das ist Konjunktv Futur. Im Zeitpunkt der Rede ist das eine Vermutung von (dazu relativ) Zukünftigem. Etwas, was zum Zeitpunkt Rede zukünftig stattfinden könnte.

Aber hier

„Nach dieser Erklärung wäre die Schwester in Tränen der Rührung ausgebrochen […].“

ist sie (in der Gegwenwrt der Rede) defintiv nicht in Tränen ausgebrochen. Etwas, das hätte statfinden können, aber defintiv nicht stattgefunden hat.

In deinem (eigenen?) Beispiel (hier die korrogierte Version - siehe oben)

Was sollte müsste er tun, wenn die Sache schiefginge schiefgehen sollte?

geht es um etwas - relativ zur Gegenwart des Sprechaktes - Zukünftiges. Um etwas, das in der Gegenwart auch der erzählten Vergangeheit auch zukünfig anliegt.

Deine Transposition (ebenfalls korrigiert)

Was hätte er tun sollen müssen, wenn die Sache schiefginge schiefgegangen wäre?

Hier liegt diese Überlegung in der - relativ zur Gegenwart der erzählten Vergangenheit (episches Präteritum) in der Vor-Vergangenheit. Das heißt, in der Gegenwart der erzählten Vergangenheit ist diese Risiko-Überlegung bereits obsolet.

Das heißt also bezüglich deiner Frage. Das Plusquamperfekt würde die Zeitgleichheit der „erlebten Rede“ mit der Gegenwart des epischen Präteritums des Erzählrahmens verletzen.

Soweit meine Einschätzung des Problems.

Gruß
Metapher

2 Like

Genau das war mein Denkfehler, die Zeitebene des Sprechaktes aus der grammatischen Gleichung auszuklammern und das (epische) Präteritum nicht als Gegenwart des Erzählrahmens zu erkennen. Ich habe mich zu sehr auf den Vergangenheitscharakter des Präteritums versteift, obwohl ja schon Hamburger und Weinrich postulierten, dass Tempus weder ausschließlich noch zwangsläufig auf die Zeit verweise.

Vielen Dank jedenfalls für deine prägnanten Erläuterungen. Ich denke, jetzt hab ich’s.

Gruß,
Herbert