Biowissenschaften - Life Sciences - Begriff

Hallo!
Ich habe eine Frage zum Gegenstandsbereich der Biowissenschaften (Life Sciences). Mich würde interessieren, wo genau die Grenze ist, also ob z.B. Medizin (Anatomie beispielsweise) oder die Neurowissenschaften generell auch sogenannte „Life Sciences“ sind oder nicht. Bei Wikipedia stehen folgende wissenschaftliche Disziplinen:

Biochemie
Bioinformatik
Biophysik
Ernährungswissenschaften
Lebensmitteltechnologie
Medizintechnik
Pharmazie und Pharmakologie
Systembiologie
Umweltmanagement
Umwelttechnik

Also konkret interessieren mich eben die weiter oben genannten Disziplinen (Anatomie als Teilbereich der Medizin und die Neurowissenschaften). Wenn in der Wikipedia-Auflistung von „Medizintechnik“ die Rede ist, nicht jedoch von Medizin, dann muss es da doch einen Grund geben.

Vielleicht kann mir da jemand weiterhelfen. Danke!

Hallo!
Ich habe eine Frage zum Gegenstandsbereich der
Biowissenschaften (Life Sciences). Mich würde interessieren,
wo genau die Grenze ist, also ob z.B. Medizin (Anatomie
beispielsweise) oder die Neurowissenschaften generell auch
sogenannte „Life Sciences“ sind oder nicht.

Naja, Medizin ist vielleicht fraglich, weil man als Mediziner sein Studium beenden kann, ohne einmal eine Kolbenhubpipette in der Hand gehabt zu haben, wenn man nett zu seinen Kommilitonen ist.
Aber die Forschung in den Bereichen wird ganz klar den Lifescienes zugeordnet.
Also, wenn Ich eine kleine (unvollständige) Auflistung mache, kommt da z.B. raus
Anatomie, Genetik, Pathologie, Neuropathologie, Neurobiologie, Entwicklungsbiologie, Chemische Biologie, Biochemie, Kombinatorik, Bioinformatik, Pharmazie, Infektionsbiologie, Mikrobiologie, Immunologie, Immunbiologie, Pharmakologie/Toxikologie, Pathophysiologie/Pathobiochemie, Grundlagen der klinischen Medizin, Pharmakotherapie

Gruß, Stefan

Vielen Dank, das hat mir schon sehr weitergeholfen. :smile:

Hallo!

„Life sciences“ ist vor allem ein hippes Modewort. Die Übersetzung ist „Lebenswissenschaften“, also die Wissenschaft von der belebten Natur. Herkömmlicherweise ist das nichts anderes als BIOLOGIE.

Wie alles außerhalb der Mathematik sind letzendlich exakte Definitionen nicht möglich und die Grenzen zu anderen Bereichen fließend.

Die Biologie hat sehr viele Teildisziplinen, darunter die genannten

Biochemie
Bioinformatik
Biophysik
Systembiologie

Aber auch Molekularbiologie (-> „molekulare Medizin“ ist nichts anderes als deren Anwendung), Ökologie (-> Anwendung in Umwelttechnik/management und sogar in der Ökonomie), Neurologie und Sinnesphysiologie mit Anwendungsgebieten in der Kybernetik und und und und.

Mit dem Bergiff „Life sciences“ hat man nun versucht, grundlagenorientierte Disziplinen mit anwendungsorientierten Disziplinen zusammenzufassen, meines Erachtens nach, um die Verbindung zwischen (oft abstrakter Grundlagen-) Forschung und deren konkreter Anwendung herauszustellen. Forschung braucht immer mehr einen Anwendungsbezug. Unis sind gezwungen, einen immer größeren Teil ihrer Forschungen durch Drittmittel zu finanzieren, die zum größten Teil - und das ist sogar ausdrücklich gewünscht! - aus der Industrie kommen. Damit sind natürlich anwendungsorientierte Forschungsprojekte im Fokus. Das Thema ist groß, komplex und verstrickt mit einer Vielzahl gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Aspekte. Das soll aber hier nicht Gegenstand sein. Nur um die Tragweite anzureißen, will ich anmerken, dass die berühmte PISA Studie nicht initiiert wurde, um die Güte der Bildungssysteme zu vergleichen und Schwachstellen und Verbesserungsmöglichkeiten zu finden, sondern von industriellen Vertretern dazu, die Bildungssysteme zu kontrollieren und so auszurichten, dass die jungen Menschen möglichst gut für das Berufsleben geeignet sind. Hier steht nicht mehr der Mensch an sich im Vordergrund, sondern die Industrietauglichkeit des Humakapitals. Das ist ein Teilaspekt der Ausrichtung von Bildung (und Forschung!) auf die Anwendbarkeit. Die „Organisation“ vieler Forschungs- und Anwendungs-Disziplinen, die irgendwie was mit der belebten Natur zu tun haben, zu den „Life Sciences“ spiegelt genau diese Bestrebung wieder, auch die Forschung auf die technische/industrielle Anwendbarkeit hin auszurichten. Forschung soll also selbst „industrialisiert“ werden, marktwirtschaftlich orientiert. Forschung muss sich rechtfertigen, unmittelbar „ökonomisch sinnvoll“ und finanzell! gewinnbringend zu sein. Unter dem Schirm der „Life Sciences“ kann nun jede Disziplin einen direkteren Bezug zur ökonomischen Sinnhaftigkeit geltend machen.

Für mich drückt der Begriff „Life Sciences“ aus, dass in den biologischen und anverwandten Fachgebieten nicht mehr aus Neugier geforscht wird, sondern aus vordergründig ökonomischen Interessen. IMHO richtet das letzlich einen großen Gesellschaftlichen Schaden an, weil nicht mehr der reine Erkenntnisgewinn, sondern statdessen der Geldgewinn im Vordergrund steht. Abstrakt gesprochen: solange sich mit global falschen Aussagen lokal Gewinne erziehlen lassen, werden sie die Entdeckung der richtigen Aussagen behindern. Außerdem werden keine Erkenntnisse gewonnen, die Verbesserungen _außerhalb_ der bestehenden ökonomischen und technischen Systeme aufzeigen können. Ich denke auch, dass echte Innovationen innerhalb bestehender Technologien zunehmend verhindert werden, weil es ökonomischer ist, bestehende Technologien zu verfeinern, als wirklich andersartige Technologien zu suchen (da kann keiner sagen, wie lange er braucht; man kann nicht notwendigerweise nach ein bis zwei Jahren tolle Publikationen vorweisen; man kann nicht ausrechnen, welchen Volkswirtschaftlichen Benefit das Ergebnis der Forschungsarbeit haben wird…).

Ok, ok, das wolltest du alles nicht wissen - ich musste das aber mal loswerden. Danke für’s zuhören :smile:

LG
Jochen

Hallo Jochen,

ich danke dir für deine sehr ausführliche Darstellung! So problematisch habe ich den Begriff gar nicht empfunden, aber du hast natürlich Recht, dass wirtschaftliche Interessen immer mehr zum maßgeblichen Faktor in der Forschung werden. Neugier allein reicht wohl nicht mehr aus. Man dürfte zwar hoffen, dass dann wenigstens nur noch in den „wichtigen“ Bereichen geforscht wird (Krebsforschung z.B.), aber das bestimmen im Zweifelsfall immer die Geldgeber. Und die sehen ein Problem wohl nur als dringlich an, wenn sich mit der Lösung entsprechend verdienen lässt.

Hallo,

ich danke dir für deine sehr ausführliche Darstellung!

ich freue mich, wenn es einen Denkanstoß gegeben hat.

Man dürfte zwar hoffen,
dass dann wenigstens nur noch in den „wichtigen“ Bereichen
geforscht wird (Krebsforschung z.B.),

Sicher wird das auch noch getan. Gerade dieses Beispiel ist schön gewählt. Krebsforschung hat einen ganz unmittelbaren Bezug zu uns, zu unserem Leben - es betrifft und DIREKT. Schon alleine deshalb muß man hier Forschung nicht sonderlich rechtfertigen.

Zusätzlch stehen hinter der Krebsforschung auch handfeste wirtschaftliche Interessen. Hier liegt nämlich eine schöne Kombination vor: eine hohe Inzidenz (Verbreitung der „Krankheit“ in der Bevölkerung) UND die extreme Schwere der Erkrankung (oft geht es um Leben und Tod; in der Regel sind Patienten bzw. die Krankenkassen durch gesellschaftlichen Druck bereit, fast jeden Betrag für eine Behandlung zu zahlen, WENN sie denn Hilfe verspricht). Es wird tatsächlich weit mehr Geld ausgegeben für die Suche nach Medikamenten GEGEN Krebs als für die Erforschung von Maßnahmen, welche das Krebs-RISIKO verringern (Beispiele: WIE können mehr Menschen dazu gebracht werden, das Rauchen aufzugeben oder gar nicht erst damit anzufangen. WIE kann regelmäßiger Alkoholkonsum in der Gesellschaft verringert werden, WIE können krebserregende Stoffe in unserer Umwelt verringert werden, WIE können Menschen einen Verantwortungsvolleren Umgang mit Lebensmitteln lernen usw usw). Genau das ist der Punkt! All diese Aktivitäten bringen keiner Firma Geld.

Wir als Gesellschaft investieren in Forschung (Steuergelder). Diese Investitionen sollten m.E. nicht nur genutzt werden, Unternehmen bessere Profite zu bescheren (was z.T. durchaus sinnvoll ist - ohne Wirtschaft keine Arbeit - keine Gesellschaft), sondern AUCH, vielleicht sogar VOR ALLEM dazu, Lösungen für Probleme zu finden, die sich auch nicht nur „Unternehmerisch“ lösen lassen (wie zB. die gesellschaftliche Ausrottung des Drogenkonsums). Solange Unternehmen Geld für solche Forschung geben, werden die Ziele eher sein, Medikamente zur Symptombekämpfung zu entwickeln, anstatt wirklich innovativ das Problem selbst zu lösen (womit sich dann ja kein Geld mehr verdienen läßt).

Ein zweiter Punkt ist folgender: Ein Forschungsprojekt, welches sich nicht vordergründig mit Krebsforschung beschäftigt, könnte sich zukünftig als sehr wichtiger Baustein in der Krebforschung herausstellen. Solange dieser Zusammenhang noch nicht sichtbar ist, bleibt diese Forschung unkonkret bzw. „sinnfrei“ und hat sehr, sehr schlechte Aussichten auf eine Förderung. Sicher MUSS nicht jedes „sinnfreie“ Forschungsprojekt irgendwann wirklich gesellschaftliche, wirtschaftliche oder sonstige „Früchte“ tragen. Aber mann muss vielen Spuren nachgehen, um die wenigen wirklich guten Spuren auch zu finden.

LG
Jochen

Hallo!

Ganz genauso sehe ich es auch!

Ich war selbst im AStA der Uni Hohenheim aktiv, als vor knapp 10 Jahren in Weihenstephan das - meines Wissens - erste Life Science Centre in Deutschland ins Leben gerufen wurde. Was dem Bayern Weihenstephan, ist dem Schwaben Hohenheim. Deswegen wurde eiligst ein Gremium ins Leben gerufen, das in Hohenheim ebenfalls ein Life Science Centre installieren sollte.

Plötzlich saßen der Physiologe und der Grünlandkundler zusammen mit dem Agrartechniker und dem Lebensmitteltechnologen (um nur einige wenige zu nennen) an einem Tisch und vermeintlich auch in einem Boot.

Es sollte ein Konzept erarbeitet werden, dessen Zielrichtung von vorneherein klar war: … Nein, natürlich nicht die Bündelung von Forschungsanstrengungen (wo kämen wir da hin!), sondern die Botschaft: „Wir sind genauso toll wie die in Weihenstephan - aber schon viel länger als die.“

Zum Teil ging es darum, dass die Agrarwissenschaften ein Imageproblem (also sinkende Studentenzahlen) hatten (eventuell noch haben???) und sich durch den Begriff „Life Science“ einen neuen modernen Anstrich verpassen wollten.

Um auf die Herren Professoren an dem Tisch bzw. in dem Boot zurück zu kommen: Wenn man jetzt glaubt, dass die inhaltliche Nähe zwischen Agrartechnik (also „Mähdreschern“) und Sinnesphysiologie (also „Second Messengers“) dadurch größer wurde, dass sich beide nun unter dem Dach der Life Science wieder fanden, irrt man gewaltig.

Das beste zum Schluss: Wenn ich mich recht entsinne, war der Arbeitstitel, unter dem das Hohenheimer Life Science Centre diskutiert wurde - und das ist kein Witz:

"Agrarbiotechnologisches Zentrum Tier, Pflanze, Ernährung, Umwelt"

Dieser monströse Titel sagt eigentlich alles über diesen Schildbürgerstreich…

Michael

P.S.: Ich war noch nie in Weihenstephan. Aber es würde mich sehr wundern, wenn das dortige Life Science Centre auf wesentlich andere Weise entstanden wäre…

Interdisziplinarität
Hallo!

Eigentlich - eigentlich - ist es ja gut, wenn auch interdisziplinäre Forschungsansätze verforgt werden. Und eigentlich könnten die „Life Sciences“ auch ein Forum dafür bieten.

Du sprichst hier tatsächlich noch ein weiteres Problem an (nicht nur das von mir genannte Problem der Zunahme an Ziel-, Anwendungs- und "Ertrags-"orientierten Forschung): Der Begriff „Life Science“ wird auch dazu verwendet, eine Interdisziplinarität vorzugeben, wo effektiv keine ist.

Eigentlich müssen dringend die Studiengänge und auch das Lehrangebot für Postgraduierte umgestaltet werden, damit die Studenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter überhaupt lernen können, wirklich Disziplin-übergreifend zu denken und zu arbeiten. Doch stattdessen werden die Studiengänge immer mehr auf die Berufsfelder zugeschnitten. Regelstudienzeiten werden durch Gebühren als „quasi-verbindlich“ vorgegeben, ein Raum für den „Blick über den Tellerrand“ bleibt nicht. Nicht das Wissen um die Welt (und manchmal selbst nicht einmal das Erlernen wissenschaftlicher Methodik) steht im Vordergrund, sondern die schnelle und kostengünstige „Produktion“ von industriellen Arbeitskräften. Die Universität wird ihrem Namen zunehmend weniger gerecht und verkommt zu einer Ausbildungsanstalt für die Industrie. Hier wäre es mE. nach besser, die berufsbezogene Ausbildung (von Biochemikern, Genetikern, Ökologen, Informatikern, Statistikern, usw.) in „Berufshochschulen“ oder Fachhochschulen zu organisieren. Das bedeutet weniger Studenten an den Unis, die können aber universeller ausgebildet werden und haben so auch bessere Voraussetzungen, interdisziplinär zu arbeiten, weil sie eben auch verschiedene Disziplinen selbst kennen lernen (können).

Nur nochmal so zur Klarstellung: Es ist überaus wichtig, viele und sehr gut ausgebildete Fachkräfte zu haben. Es ist IMHO nur nicht die Aufgabe der Unis, das zu leisten.

LG
Jochen

PS: Ich war vor nicht all zu langer Zeit auf einem Symposium zur Systembiologie (systems biology auf neudeutsch). Hier haben sich Molekularbiologen, Biochemiker, Informatiker und Mathematiker versammelt, um die neuesten Erkenntnisse über das Verständnis von molekularen Regulationsnetzwerken zusammenzutragen. Die Fortschritte sind mühsam, immer neue Fehlerquellen werden gefunden und um die Interpretation von Daten wird gerungen. Dummerweise ist das allermeiste davon eigentlich ein alter Hut. Schon vor 10 Jahren standen die Ökologen bei der Beschreibung von Ökosystemen vor im Prinzip sehr ähnlichen Problemen und haben entsprechende Methoden entwickelt. Leider sind die „Ökos“ bei den ach so seriösen Molekularbiologen und Biochemikern nicht sonderlich gut angesehen und tatsächlich haben die meisten von ihnen auch kaum Einblick in die Ökologie. So blieb ihnen verwehrt, zu erkennen, dass die Lösung auf die meisten Ihrer Probleme schon existieren. Mit meinem Hinweis auf diesen Sachverhalt erntete ich Unverständnis. Natürlich wird das so gut irgend möglich ignoriert. Und selbst WENN ein Biochemiker die Einsicht hätte, dass die ökologischen Modelle auf die biochemischen Vorgänge in der Zelle oder in Zellverbänden übertragbar seien, so fehlte ihm die Möglichkeit, die beschriebenen ökologischen Zusammenhänge richtig zu verstehen, zu interpretieren, um sie korrekt umsetzen zu können. Tja, und alles das passiert zwischen zwei recht eng verwandten Teilgebieten INNERHALB der Biologie, die beide von vielen Bio-Studenten noch mit Kursen belegt werden mußten.

Ja.

Blöd ist halt, dass man glaubt, man könnte Interdisziplinarität dadurch erreichen, dass man möglichst viele Spezialisten an einen Tisch setzt. In Wirklichkeit bräuchte man Generalisten, aber wo gibt es die heute noch?

Weil die Professoren Fachidioten sind, glauben auch die Studenten, dass sie für die coole Molekularbiologie nichts über die spießige Systematik wissen müssten. Auf diese Weise liegen in der Biologie immer mehr Wissensgebiete mehr oder weniger brach.

Früher, als man Bio noch auf Diplom studierte, musste man viel „nutzloses“ Wissen anhäufen. Die Stolpersteine zum Vordiplom hießen nicht Zoologie und Botanik, sondern Mathe, Physik und organische Chemie. Heute - in vielen B/M-Studiengängen - wurden die Studienpläne „entrümpelt“, und ich habe die Sorge, dass die heutigen Studenten viel weniger in der Lage sind, über den Tellerrand zu schauen als noch vor 20 Jahren.

Vielleicht - gewagte Hypothese! - sind heute die Physiker die besseren Biologen.

Michael