Hallo Michael,
vor einigen Jahren hatten wir hier eine ausführliche Diskussion zu dem Thema. Meine Beitrage (unter einem anderen Profil veröffentlicht) finde ich leider im Archiv nicht, aber ich hatte mir damals eine Kopie auf meiner Festplatte abgespeichert. Daher also keinen Link ins Archiv, sondern ein recycelter Text.
Die Behauptung, Bismarck habe den Krieg mit Frankreich gewollt und bewusst betrieben (womöglich sogar mit dem Ziel, dadurch die deutsche ‚Einigung‘ zu erreichen), ist eine gern verbreitete, aber kaum belegte Legende. Diese Legende wird nicht dadurch richtiger, dass sie von den unterschiedlichsten Seiten gepflegt wurde. Zum einen von deutschnationalen Bismarckverehrern, die ihrem Idol im Nachhinein eine geniale politische Strategie und nahezu hellseherische Kräfte zuschreiben wollten - und zum anderen von Leuten, für die Deutsche sowieso an jedem Krieg, an dem sie jemals beteiligt waren, automatisch auch schuld sind. Nach dieser Theorie, die von Parteien vertreten wird, die ansonsten einander spinnefeind sind, hat Bismarck die dummen Franzosen schlicht und einfach reingelegt - die waren zu dämlich um zum merken, worauf Bismarck eigentlich hinauswollte … So stellt sich klein Erna die Polletick vor.
Es ist in der Geschichte eigentlich eher selten der Fall, dass jemand einen Krieg will - in dem Sinne, dass er relativ frühzeitig einen entsprechenden Entschluss fasst und konsequent darauf hinarbeitet. Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Zum Krieg kommt es, wenn die Politik versagt.
Man könnte nun in Bezug auf den Kriegsausbruch von 1870 fragen, zu welchem Zeitpunkt die Politik bzw. die Diplomatie versagte und wer für dieses Versagen die Verantwortung trug. In diesem Zusammenhang wird immer wieder die Lancierung der ‚Emser Depesche‘ durch Bismarck genannt - zu einem guten Teil aus den oben von mir genannten Gründen. Dagegen tritt die Kammererklärung der französischen Regierung vom 6. Juli deutlich in den Hintergrund - ebenfalls aus den genannten Gründen. Wenn man sich die ganze Vorgeschichte der spanischen Hohenzollernkandidatur anschaut, so wird deutlich, dass die französische Regierung in grober Fehleinschätzung ihres militärischen Potentials bewusst einen Kollisionskurs mit Preußen steuerte - mit allen (auch militärischen) Konsequenzen. Bismarck hatte lediglich eine zutreffendere Einschätzung des Kräfteverhältnisses und wenig Anlass, einer Konfrontation mit Frankreich auszuweichen. Ob da schon Fragen der Reichseinigung eine Rolle spielten, ist zumindest nicht bewiesen.
Einseitige Schuldzuweisungen bei militärischen Konflikten sind häufig (nicht immer) problematisch. Wer für den Ausbruch des Krieges die größere Verantwortung trägt - Bismarck oder seine Gegenspieler Gramont, Ollivier und Napoleon III. - ist zumindest strittig. Das Problem ist, bei der Beantwortung solcher Fragen zunächst den Ausgang des Konfliktes zu ignorieren und sich der Fragestellung wirklich ohne Parteilichkeit zu nähern.
Ein schönes Beispiel dafür, wie man mit Halbwahrheiten Geschichtsklitterung betreiben kann, ist die häufig kolportierte Geschichte, die sog. „Schutz- und Trutzbündnisse“ Preussens mit den Süddeutschen seien Geheimverträge gewesen (nach dem Motto: Bismarck hat das arglose Frankreich in eine Falle gelockt). Noch 1866 hatte Napoleon III. Preussen ein Schutz- und Trutzbündnis vorgeschlagen. Preis dafür sollte die preussische Zustimmung zur Annexion Luxemburgs durch Frankreich sein (das Vorspiel zur Luxemburgaffäre). Preussen zog es dagegen vor, Militärbündnisse mit Baden, Württemberg und Bayern zu schließen - in der Tat zunächst als Geheimverträge. Was manche ‚Quellen‘ dann gerne verschweigen ist die Tatsache, dass diese Geheimverträge bereits 1867 öffentlich gemacht wurden. Übrigens auf Wunsch Bayerns - nach dem fehlgeschlagenen Luxemburgprojekt wandte sich Napoleons Interesse nämlich der bayerischen Rheinpfalz zu. Selbst ohne formale Bündnisse hätte man in Frankreich wissen müssen, dass es sich keine süddeutsche Regierung innenpolitisch hätte erlauben können, in diesem Krieg auch nur neutral zu bleiben.
Kommen wir zur sog. ‚Emser Depesche‘ und der schönen Legende, sie sei Kriegsgrund gewesen bzw. mit ihr habe Bismarck den Krieg vom Zaun gebrochen oder doch zumindest arglistig Frankreich zu einer Kriegserklärung gezwungen. Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen war auf Grund der französischen Kammererklärung vom 6. Juli 1870 - die allgemein als mehr oder weniger offene Kriegsdrohung Frankreichs verstanden wurde - aus eigenem Entschluss von der spanischen Thronkandidatur zurückgetreten (bzw. sein Vater Anton hatte diesen Entschluss stellvertretend für ihn erklärt). Als König Wilhelm am Morgen des 13. Juli auf der Brunnenpromenade in Bad Ems, wo er zur Kur weilte, dem französischen Botschafter Benedetti (sicher nicht zufällig) begegnete, sprach er ihn an und äußerte seine Erleichterung darüber, dass die Krise mit dem von Frankreich geforderten Rücktritt von der Kandidatur überstanden sei. Daraufhin präsentierte Benedetti (von Außenminister Gramont instruiert) mündlich zwei neue Forderungen - nach den diplomatischen Usancen der Zeit ein unerhörter Vorgang. Das Vorgehen Benedettis (in aller Öffentlichkeit!) würde man heute salopp als „dumm von der Seite anquatschen“ bezeichnen. Es ist bezeichnend für die stümperhafte Diplomatie der aus aussenpolitischen Amateuren bestehenden Regierung Ollivier.
Zum einen sollte König Wilhelm öffentlich seine Zufriedenheit über den Kandidaturverzicht aussprechen (was er ohne weiteres zusagte; er sei mit dem Verzicht genau so zufrieden, wie er es vorher mit der Anmeldung der Kandidatur gewesen sei) und zum anderen sollte er öffentlich erklären, er würde eine eventuelle zukünftige erneute Kandidatur untersagen. Diese ‚Garantieerklärung‘ lehnte König Wilhelm ab - davon abgesehen sei eine solche Erklärung unnötig, seine sigmaringischen Vettern seien Ehrenmänner; wenn sie den Verzicht auf die Kandidatur versprochen hätten, würden sie auch nicht später wieder darauf zurück kommen.
Zum einen hatte König Wilhelm gar keine rechtliche Handhabe, die Kandidatur eines entfernten Verwandten für den spanischen Thron zu untersagen. Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen kandidierte als Privatmann. Bismarck war zwar frühzeitig eingeweiht und befürwortete die Kandidatur, aber es gab keine offizielle Unterstützung Preussens. König Wilhelm war als Haupt des Hauses Hohenzollern (somit ebenfalls als Privatmann, nicht als König von Preussen) um Genehmigung der Kandidatur gebeten worden und hatte diese erteilt - erforderlich war eine solche Genehmigung allerdings nicht.
Zum anderen hätte die Garantieerklärung im Nachhinein die (stets zurückgewiesene) Beschuldigung der französischen Regierung bestätigt, hinter der Kandidatur stecke ein antifranzösisches Komplott zwischen Preussen und dem spanischen Machthaber Marschall Prim. Damit würde nun der Eindruck erweckt, Preussen ziehe angesichts des entschlossenen Auftretens Frankreichs den Schwanz ein. Der Rückzug der Kandidatur allein hätte dies - das war Gramont klar - nicht glaubhaft genug gemacht.
Um genau diesen Propagandaerfolg auf Kosten einer diplomatischen Demütigung Preussens ging es Frankreich. Das sowohl national wie international durch die zeitgenössische Presse kritisierte Säbelrasseln der französischen Regierung sollte damit nachträglich (vor allem im eigenen Land) gerechtfertigt werden - wobei man bedenkenlos bereit war, einen Krieg zu riskieren.
König Wilhelm lehnte also die Garantieforderung höflich, aber strikt ab. Als Benedetti am Nachmittag selbigen Tags (diesmal offiziell) bei ihm vorsprechen wollte, wurde ihm gesagt, wenn es um die Garantieforderung ginge, werde er nicht empfangen.
Diese Vorgänge wurden am Abend Bismarck von Geheimrat Heinrich Abeken routinemäßig per Depesche mitgeteilt (die sog. ‚Emser Depesche‘) - mit der Autorisierung, den Inhalt an die Öffentlichkeit weiterzugeben. Die Depesche war nicht als Bulletin verfasst und damit auch nicht ohne weiteres zur Veröffentlichung in der Presse geeignet; sie musste redigiert werden - auch dies war üblich. Bismarck tat dies in einer Weise, die die französische Regierung bloßstellte - indem deutlich gemacht wurde, dass man sich gegenüber weiteren Zumutungen Frankreichs verwahre. Insbesondre vermittelte die redigierte Fassung den Eindruck, König Wilhelm lehne es vollständig ab, Benedetti weiterhin zu empfangen. Die Ablehnung bezog sich jedoch tatsächlich nur auf Verhandlungen über die Garantieerklärung. Dies hatte König Wilhelm noch am Abend des 13.07. gegenüber Benedetti durch seinen Adjutanten Fürst Radziwill ausdrücklich klarstellen lassen, so dass die nachmittags abgelehnte Audienz von französischer Seite nicht falsch - als Abbruch der diplomatischen Beziehungen - aufgefasst werden konnte.
Die redigierte Emser Depesche hatte ein wichtiges Anliegen Gramonts durchkreuzt - Bismarcks Schachzug nahm der französischen Regierung die Möglichkeit, den Kandidaturverzicht nun noch als einen der Einschüchterung Preussens zu verdankenden aussenpolitischen Erfolg zu verkaufen. Man wollte sich mit dem Kandidaturverzicht allein nicht zufrieden geben und hatte dann mit der Garantieforderung den Bogen überspannt. Weniger wäre mehr gewesen.
Daraufhin erklärte Frankreich den Krieg. Auch hier wird häufig behauptet, Napoleon III. sei gar nichts anderes übriggeblieben, was natürlich unhaltbar ist. Die (redigierte) Emser Depesche war sicher ein (allerdings wohlverdienter) diplomatischer Affront - aber selbst nach den Gepflogenheiten der Zeit war sie kein akzeptabler Kriegsgrund. Die französische Regierung hatte einen empfindlichen, aber selbstverschuldeten Gesichtsverlust erlitten. Das hatte Bismarck nach der französischen Kammererklärung vom 06.07. und der Rücknahme der Kandidatur auch - aber die preussische Regierung war im Gegensatz zur französischen bereit, die Kritik der Öffentlichkeit (und des Parlaments) wegen einer diplomatischen Schlappe einzustecken. Hätte Preußen den Krieg gewollt, hätte es die Kammererklärung vom 6. Juli mit der Kriegsdrohung Frankreichs ignoriert und auf der Kandidatur Leopolds bestanden. Die Kriegserklärung vom 19.07. war nicht unvermeidlich - man zog sie seitens der französischen Regierung lediglich der Übernahme der Verantwortung für ein (nicht einmal besonders schwerwiegendes) aussenpolitisches Versagen vor. Das hätte allerdings das Ende des ohnehin nicht sonderlich sattelfesten Kabinetts Ollivier bedeuten können. Es ging um verletzte persönliche Eitelkeiten (wie immer, wenn von der ‚Ehre der Nation‘ die Rede ist); nie jedoch um eine tatsächliche nationale Bedrohung.
‚Krieg‘ war spätestens seit dem Vorabend der Kammererklärung (also seit dem 05.07.) für Frankreich eine akzeptable Option. Dass der Stein des Anstoßes - die Kandidatur einer unbedeutenden Hohenzollen-Nebenlinie für den spanischen Thron - bereits weggefallen war, störte am 13.07. niemanden mehr. Es hatte ja schon nicht gestört, dass die spanische Thronfolge innere Angelegenheit eines souveränen Staates war, die Frankreich absolut nichts anging. So hatte man keine Hemmungen, nach dem nächsten sich bietenden Kriegsgrund zu greifen - ob plausibel oder nicht. Man hatte sich auf französischer Seite innenpolitisch so weit aus dem Fenster gelehnt, dass der Fall unvermeidlich wurde.
Empfohlene Literatur:
Eberhard Kolb
Der Kriegsausbruch 1870
Politische Entscheidungsprozesse und
Verantwortlichkeiten in der Julikrise 1870
Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen1970
(ohne ISBN)
Freundliche Grüße,
Ralf