Bremen, September 1915

Für einen historischen Roman suche ich, Profischriftstellerin, Antwort auf die Frage: Ist es historisch korrekt wenn ich den Plot darauf aufbaue dass im September 1915 eine Gruppe von rekonvaleszenten verwundeten Soldaten auf einem Gutshof in der Nähe von Worpswede bei Bremen einquartiert wird, da dieses Gebiet vom Krieg nicht berührt wurde?

Hallo erstmal,
sehr wahrscheinlich ist es nicht, das einfache Soldaten zur Genesung dorthin gebracht wurden. Immerhin verlief die Westfront noch weit hinter der belgischen Grenze. Auch die Ost-oder die Italienfront liegen zu weit entfernt, als das einfache Soldaten, per Zug solche Strecken zurück verlegt wurden.
Lazarette befanden sich zumeist nicht weit von der Front entfernt.
Wenn doch, so könnte es sich nur um hohe Offiziere handeln. Generäle oder Oberste, von adeligem Geblüt.
Der zweite Grund der Unwahrscheinlichkeit, ist, das man im Reich gar keine Verwundeten sehen wollte.
Der Bevölkerung wurde doch immer von Siegen berichtet, das es da auch Tote und Schwerverwundete gab wurde nicht erzählt. Nur die Verluste des Gegners wurden benannt.

grüsse borthi
(Wenn noch Fragen, fragen)

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Hallo Borthi,

sehr wahrscheinlich ist es nicht, das einfache Soldaten zur
Genesung dorthin gebracht wurden.

Da bin ich mir ganz nicht so sicher. Aber ich weiß es eben auch nicht. Fest steht aber, dass die Entfernung keine Rolle spielte, immerhin wurden ganze Großverbände zwischen Ost- und Westfront hin- und herverschoben.

Der zweite Grund der Unwahrscheinlichkeit, ist, das man im
Reich gar keine Verwundeten sehen wollte.

Das halte ich nun aber für grob übertrieben. Trotz der langen Friedenszeit zuvor wusste jeder, dass der Krieg Opfer fordert. Insofern bestimmten Invalide schon bald das Straßenbild. Die ganz schlimmen Verwundungen, besser Entstellungen, blieben allerdings bis lange nach dem Krieg freiwillig in Erholunmgsheimen, weil sie sich mit ihrem Aussehen nicht unter die Leute wagten.

Mit liegt etwas anderes am Plot im Magen. Worpswede ist so bekannt und erforscht, da würde ein hinzugedichtetes Lazarett mit der Wirklichkeit kolidieren. Teilfiktionale Plots sind gefährlich. Ich würde dann lieber eine fiktive Künstlerkolonie irgendwo erfinden. Wenn der Roman ein Erfolg wird, können sich spätere Germanistikstudenten mit der Frage beschäftigen, welcher tatsächliche Künstler sich hinter der Kunstfigur verbirgt :wink:

Gruß,
Andreas

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Hallo,
im Kreiskrankenhaus Blumenthal gab es 1914-1918 (und auch während des 2. Weltkriegs) ein Lazarett. Wer und welche Verletzungen dort behandelt werde, weiß ich nicht, man könnte aber beim Klinikum Bremen-Nord nachfragen.
http://www.klinikum-bremen-nord.de/internet/kbn/de/j… - Seite 10 (pdf 3,35MB)
Grüße, Peter

Da muss ich noch eine Erklärung hinzufügen: Bei der Einquartierung handelt es sich um eine Deck-Aktion des Geheimdienstes.
Ich ändere also: Die Geschichte spielt etwas weiter weg inmitten unbekannter Nester in der Bremer Moorlandschaft. (Eigentlicher Schauplatz ist sowieso ein sehr einsam gelegenes fiktives Herrenhaus). Die von euch aufgezählten Gründe machen verschiedene Personen misstrauisch. Es kommt ohnehin rasch heraus, dass mit diesem Lazarett etwas nicht stimmt und der Geheimdienst dahinter steckt.
Übrigens: Historische Romane sind praktisch immer teilfiktive Plots. Das gebe ich allerdings dann am Schluss des Romans immer an, damit sich kein Germanistikstudent den Kopf zerbrechen muss.

Hallo,

ich bezweifle stark, dass der im ersten Weltkrieg nur in Ansätzen vorhandene deutsche Geheimdienst dermaßen konspirativ vorgegangen wäre. Hätte man Leute vor der Öffentlichkeit abschirmen müssen, hätte man sie einfach in ein militärisches Sperrgebiet oder in eine Kaserne verbracht.

Ansonsten war es in den ersten Kriegsjahren mit ihren verhältnismäßig geringen Verlusten durchaus üblich, auch einfache Soldaten zur Genesung weiter ins eigene Hinterland zu bringen. Ich habe Fotos von der Entladung eines Verwundetentransports 1915 am Bahnhof in Tübingen gesehen. Das waren gewiss nicht alles Stabsoffiziere…

Gruß
smalbop

Erstmals danke für eure ausführlichen Antworten!
Ich möchte darauf aufbauen, dass im Verlauf des Ersten Weltkrieges 4 Patente für Chiffriermaschinen angemeldet wurden und einen weiteren, fiktiven Wissenschaftler zur Hauptfigur des Romans machen, der bei einem Anschlag verletzt und vom Geheimdienst versteckt wird. Ich weiß, normalerweise würde man ihn in eine Kaserne sperren, aber daraus kann ich keinen Roman machen. Irgendwie muss ich ihn in ein entlegenes Gutshaus samt junger Gutsherrin bringen.
Lacht mich bitte nicht aus! Ich lebe vom Schreiben und bemühe mich, als Laie auf dem jeweiligen historischen Gebiet möglichst korrekt zu arbeiten, aber eine Liebesgeschichte ist Pflicht. Ich muss das Exposee Anfang Oktober bei der Frankfurter Buchmesse einreichen. Könnt ihr mir Tipps geben, wie ich mich zwischen strenger Militärhistorie und verkaufbarem Roman durchlaviere?

Hallo Andreas

Da bin ich mir ganz nicht so sicher. Aber ich weiß es eben
auch nicht. Fest steht aber, dass die Entfernung keine Rolle
spielte, immerhin wurden ganze Großverbände zwischen Ost- und
Westfront hin- und herverschoben.

Da hast du völlig recht.
Aber eben dazu braucht man ja die ohnehin schon überlasteten Transportmöglichkeiten.
Aus milit. Notwendigkeit, um Truppen dorthin zu verlegen, wo sie gebraucht wurden.
Natürlich kam es dabei vor das, um die Züg nicht wieder leer zurückfahren zu lassen, auch Verwundete weiter zurück verlegt wurden.
Aber die Regel war das nicht.
Schließlich wollte man ja genesene Soldaten auch wieder schnell im Einsatzgebiet haben, dazu wurden sie zumeist jedenfalls Frontnah,meinetwegen 50-100km hinter der Front untergebracht.

Der zweite Grund der Unwahrscheinlichkeit, ist, das man im
Reich gar keine Verwundeten sehen wollte.

Das halte ich nun aber für grob übertrieben. Trotz der langen
Friedenszeit zuvor wusste jeder, dass der Krieg Opfer fordert.
Insofern bestimmten Invalide schon bald das Straßenbild. Die
ganz schlimmen Verwundungen, besser Entstellungen, blieben
allerdings bis lange nach dem Krieg freiwillig in
Erholunmgsheimen, weil sie sich mit ihrem Aussehen nicht unter
die Leute wagten.

Erst später gehörten die Invaliden,aber das waren total ausgemusterte, die nicht wieder an die Front konnten, zum alltäglichen Strassenbild in deutschen Städten.
1915 träumte man noch von Sieg. Da passten Invalide nicht ins Gesamtbild der siegreichen Armee.
Ich könnte mir vorstellen, das Nervenkranke, sog. Zitterer, insgeheim nach Bremen gebracht wurden, oder die ersten Gasopfer, um sie genau zu studieren.

grüsse borthi

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Ich habe Fotos von der Entladung eines
Verwundetentransports 1915 am Bahnhof in Tübingen gesehen. Das
waren gewiss nicht alles Stabsoffiziere…

Hallo smalbop,
vielleicht lag das daran, das Tübingen ca.250 kilometer(Luftlinie) hinter der Italien- und auch der Westfront lag.
Bremen dagegen mehr als 650 Kilometer hinter der Front.

grüsse borthi

im Kreiskrankenhaus Blumenthal gab es 1914-1918 (und auch
während des 2. Weltkriegs) ein Lazarett. Wer und welche
Verletzungen dort behandelt werde, weiß ich nicht, man könnte
aber beim Klinikum Bremen-Nord nachfragen.

Hallo Peter,
vielleicht wurden dort Angehörige der „Kaiserlichen Marine“ behandelt.

grüsse borthi

Bremen dagegen mehr als 650 Kilometer hinter der Front.

Hallo Borthi,

nun ja, nur 650 km hinter der _West_front, hätte die Home Fleet den Mumm gehabt, in den Jadebusen einzufahren, wäre Bremens Umland zur Nordfront im direkten Beschuss schwerer britischer Schiffsartillerie geworden.

Gruß
smalbop

Verwundete im Hinterland
Hallo Smalbop,

im Gegensatz zur Frage 20 Juli im Geschichtsforum stimme ich Dir hier zu. Das mit den „verhältnismäßig geringen Verlusten“ stimmt zwar nicht, aber mir ist eingefallen, dass überall im Reich Schulen in Hilfslazarette umgewandelt wurden.

Ansonsten war es in den ersten Kriegsjahren mit ihren
verhältnismäßig geringen Verlusten durchaus üblich, auch
einfache Soldaten zur Genesung weiter ins eigene Hinterland zu
bringen. Ich habe Fotos von der Entladung eines
Verwundetentransports 1915 am Bahnhof in Tübingen gesehen.

Das Argument der überlasteten Eisenbahn zieht nicht, weil das Streckennetz 1914 eher besser ausgebaut war als heute. Immerhin sind die ICE-Schnellstrecken die ersten echten Neubaustrecken seit Jahrzehnten. Dafür sind aber viele damals vorhandene Nahverkehrsstrecken abmontiert worden.

Und wie schon angedeutet: eine pazifistische Sicht auf Kriegsfolgen gab es nur bei linksradikalen Kreisen. Der Invalide an sich wurde respektvoll gegrüßt. Siegeszuversicht herrschte bis September/Oktober 1918, da trugen sich die Opfer leichter. Sehr erhellend über diese Zeit sind die Erinnungen von Sebastian Haffner.

Gruß,
Andreas

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