Es handelt sich bei der gesamten Diskusiion um heiße Luft. Selbstverständlich ist die SPD die stärkste im Bundestag vertretene Partei; ohne Zweifel stellt die CDU/CSU die stärkste Fraktion. Aus dem einen wie dem anderen Fakt leitet sich kein verfassungsmäßiger Anspruch auf irgendetwas ab. Den Kanzler wird diejenige Partei stellen, die in Gesprächen mit anderen Parteien eine Mehrheit für jemanden aushandeln kann.
Natürlich mutet es befremdlich an, dass CDU und CSU sich gleichsam alle Vorteile von zwei Parteien sichern - etwa, wenn es darum geht, in TV-Diskussionen eingeladen zu werden, bei Wahlkampfkostenerstattungen, in Ausschüssen, bei der Besetzung von Parlamentsposten, gleichzeitig aber dann die Gemeinsamkeit der Fraktion betonen will, wenn dies Vorteile verspricht, wie bei der Frage, wer den Kanzler stellt. Diese Diskussion ist Jahrzehnte alt. Die Gliederung der deutschen Konservativen in zwei einzelne Parteien ist inzwischen aber als historisch gewachsen zu bewerten. Es würde auch niemand die SPD daran hindern, die bayrische SPD abzuspalten, sie in „Bayrische Sozialdemokratische Partei“ umzunennen und mit dieser BSP eine Fraktionsgemeinsachaft im Bundestag einzugehen. Abgesehen von allen weiteren (überflüssigen, in jenem Fall aber anstehenden) Überlegungen über die Sinnhaftigkeit einer solchen Aktion (BSP bundesweit über 5%? Ist die Schwesterpartei BSP vom Willi-Brandt-Haus aus steuerbar? All solche Überleghungen und Probleme, wie sie auch die CDU hat - abgesehen also davon ist dies Vorgehen weder ungesetzlich noch verwerflich.
Es hätte nur in _dieser_ Diskussion keinerlei Einfluß.
Es steht nirgendwo geschrieben, dass die nominell stärkste Partei den Kanzler stellen muß, so wie es kein Gesetz gibt, dass dieses Recht der stärksten Fraktion zustehen würde. Dieser Punkt ist Verhandlungssache der an einer anstehenden Koalition beteiligten Parteien.
Beispiel.
Partei A bekommt bei einer Wahl die meisten Stimmen und stellt die größte Fraktion
Partei B bekommt weniger Stimmen und stellt 20 Abgeordnete weniger als Partei A
Bartei C erringt in einem Drei-Parteien-System 25 Abgeordnete.
Denkbar wird eine Koalition aus B und C. Üblich wäre ein Kanzler von der B. In einer Verhandlung würde gleichzeitig nichts gegen einen Kanzler von Partei C sprechen.
Wenn mich nicht alles täuscht, gab es mal diesen Fall in Deutschland - eine koalition der zweitstärksten Fraktion SPD mit der FDP unter Schmidt (sicher bin ich mir aber nicht, und nachzugucken bin ich grad zu faul)
Fazit.
Diese Diskussion ist rein taktisch von allen Seiten geführt, es gibt weder gesetzliche Ansprüche noch faktische Zwänge für das eine oder das andere. Theoretisch könnte auch eine große Koalition einen Parteilosen zum Kanzlerkandidaten machen. Es handelt sich um reines Machtgeplänkel von allen Seiten, da eine Kanzlerin Merkel für die SPD genau wie ein KAnzler Schroeder für die CDU je ein Symbol für eine verlorene Wahl (und verlorene Verhandlungen) wären, ein Zeichen von Schwäche. Der Bundespräsident wird denjenigen Kandidaten vorschlagen, die die größte Chance haben wird, gewählt zu werden; üblicherweise den, auf den sich die Parteien in ihren Verhandlungen geeinigt haben.
Die Vorgehensweise wird nicht durch einen tradierten, üblichen „guten parlamentarischen Brauch“ entschieden werden, sondern durch die gut- oder schlachtgeführte Verhandlungsweise der beteiligten Parteien. Und wenn dabei am Ende herauskommt, dass ein aus der FDP ausgetretener Westerwelle als Parteiloser Kanzler einer von der Linkspartei geduldeten Regierung aus CDU und Grünen vorsteht, weil dies in Verhandlungen der Beteiligten so herauskommt, dann wird das so.
(Nein. Ich halte das nicht für wahrscheinlich)