Hallo Karl,
eine Rolle mag auch spielen, dass in F die Wartezeit auf einen Termin zum Test über eine Woche ausmacht - das bedeutet, dass kein Ansteckender wissen kann, dass er ansteckend ist, und dass die Versuche der Behörden, die Infektionsketten zu rekonstruieren, allenfalls fürs Archiv und die Statistik interessant sind, aber viel zu spät kommen, als dass man damit Anhaltspunkte zur Isolierung von ansteckenden Personen gewinnen könnte.
Für eine gewisse Bedeutung dieses Faktors spricht, dass man in den vergangenen 2-3 Wochen auf den veröffentlichten Karten zur Inzidenz pro Departement hübsch sehen konnte, wie die Werte > 50 sukzessiv von einigen Schwerpunkten aus flächig vorrückten.
Die Disziplin der Gallier ist besser als in D, wo und weil sie besser kontrolliert wird: Wer auf Bahnhöfen so wie in D die Maske unters Kinn schiebt, noch bevor er ganz aus dem Zug draußen ist, hat ruckzuck einen procès-verbal im Wert von (glaub ich) siebzig Euro an der Backe, in einem guten Teil der Züge (Fern- und Nahverkehr) ist Polizei unterwegs (hat auch damit zu tun, dass man von den sog. Kontrolleuren der SNCF auch unter ‚Friedensbedingungen‘ im Zug höchst selten was sieht).
In den Bahnhöfen gibt es hübsche Markierungen, um die Fußgängerströme auseinanderzuhalten. Gut gemeint, aber sowas wird in F als Aufforderung verstanden, in einer Art Slalom-Parcours durch die Menge zu hüpfen, nur um möglichst ausführlich gegen die gegebene Regel zu verstoßen. In den Straßenbahnen sind Stehplätze mit Schuhsohlen-Symbolen im Abstand von etwa 80 cm auf den Boden gemalt - um Franzosen dazu zu bringen, sich an diese Empfehlung zu halten, müsste man neben jeden so markierten Stehplatz eine Kampfratte von den CRS mit entsicherter Uzi postieren. Wenn es nicht so ernst wäre, immer wieder zum schmunzeln die Leute, die von Miene und Auftreten her in die Schublade „républicain pur et dur“ passen, und mit entschlossenem Gesicht einen Mund-Nasen-Schutz unter der Nase tragen.
Relativ bald nach dem confinement Anfang Juli waren wir ein paar Tage in Illkirch und Strasbourg. In Illkirch am Baggersee gute Disziplin betreffend Abstand und Mund-Nasen-Schutz, dito im Supermarkt Auchan direkt daneben. Anders als in D gab es in Illkirch unmittelbar nach dem Confinement einen enormen Nachholbedarf betreffend „aus Essen gehen“: Keine Chance, irgendwo in einem der vielen Lokale mit Terrassen nur ein - zwei Tage im Voraus etwas reserviert zu kriegen, außer den Touristenfallen in Strasbourg Zentrum alles pickepackevoll, auch zu unüblichen Zeiten.
Im August eine Woche zu Besuch bei einer Freundin in Dole, die Lehrerin am Collège ist - sie ist einigermaßen verzweifelt, weil die Lehrer in F mit dem Schuljahresbeginn in genauso konzeptions- und perspektivlosem Chaos alleine gelassen werden wie die in D, mit dem Unterschied, dass es den Lehrern in D erlaubt ist, in Eigenverantwortung und Eigeninitiative welche Lösungsansätze auch immer einzurichten, während ein Lehrer in F sich nicht einmal schneuzen darf, wenn er nicht vorher einen Antrag auf Genehmigung des Schneuzens gestellt hat, der über seine Schulleitung und den Präfekten Ebene für Ebene bis zum zuständigen Ministerium und danach den gesamten Instanzenweg wieder zurück gegangen ist.
Last, but not least sind in Frankreich bedeutende Zahlen von Menschen, die ein Leben ziemlich fern von irgendwelchen seuchenhygienischen Überlegungen und Maßnahmen führen und mit eher großen Familien in vergleichsweise winzigen Wohnungen leben, in viel größerem Umfang systematisch in „Cités HLM“ auf engem Raum konzentriert, Marzahn Mitte und Feldmoching-Hasenbergl sind beinahe lustig im Vergleich zu Marseille Nord - und es war präzise dort und nicht gleichmäßig über das Departement Bouches-du-Rhône verteilt, dass die Ansteckungen außerhalb von Paris außer Kontrolle geraten sind. Das Vordringen der Infektionen in den letzten Tagen über Béziers nach Perpignan zeichnet die Spur der Barres HLM nach, in denen dort im Süden Leute leben, die anders als in Paris ohne jede Perspektive sind.
Zurück zum Start: Im Zentrum der Entwicklung steht, dass die Behörden in F die Versuche, das Vordringen der Infektionen zu bremsen, so gut wie aufgegeben haben - weil ihnen in Ermangelung der dafür nötigen Mittel nichts anderes übrig blieb. Wenn es Möglichkeiten gäbe, hier was zu machen, hätte der plötzlich aus dem Zylinder geholte Jean Castex, ein politisch wendiger und farbloser, aber technisch und organisatorisch brillanter „Yaca“, sie recht zügig aufgegleist. Dass er erklärt, jetzt sei es erstmal wichtiger, wieder an die Arbeit zu gehen, bedeutet, dass die zuständigen Behörden in F die Trikolore eingeholt und die weiße Fahne gehisst haben.
Schöne Grüße
MM