Danke, Thomas, für Deine sorgfältige Einlassung, Und Danke für den Hinweis auf die frühere Arbeit von Prauss. Ich komme darauf zurück.
„Das Ansichsein“ der Rose, also das, was da wirklich ist und uns
affiziert, was wir also gar nicht wahrnehmen können, wäre das
Ansichsein der Rose.
Meine „unglückliche Formulierung“, wie Du sagst, ist in der Tat recht hausbacken (die Verdoppelung war ein Versehen und müsste wohl „Die Wirklichkeit der Rose" heißen.), hat aber den Vorteil, für Außenstehende auch sprachlich leichter zugänglich und sogar plausibel zu sein, könnte aber in der Tat trotz Konjunktiv ein Missverständnis der Kantschen Erkenntnistheorie vertiefen, wenn ich es dabei beließe. Natürlich müsste man nach Kant neben den Sinnesdaten auch noch all das Logische, was er in den Kategorien zusammenfasst, und was zu unserer Wahrnehmung und Definition der Rose dazugehört, abziehen.
Kant: (B45/46,A30/31)„Denn in diesem Falle gilt das, was ursprünglich selbst nur Erscheinung ist, z.B. eine Rose, im empirischen Verstande für ein Ding an sich selbst, welches doch jedem Auge in Ansehung der Farbe anders erscheinen kann. Dagegen ist der transzendentale Begriff der Erscheinungen im Raume eine kritische Erinnerung, daß überhaupt nichts, was im Raume angeschaut wird, eine Sache an sich, noch daß der Raum eine Form der Dinge sei, die ihnen etwa an sich selbst eigen wäre, sondern daß uns die Gegenstände an sich gar nicht bekannt sein, und, was wir äußere Gegenstände nennen, nichts anders als bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit sein, deren Form der Raum ist, deren wahres Correlatum aber, d.i. das Ding an sich selbst, dadurch gar nicht erkannt wird, noch erkannt werden kann,…“
Du schreibst: „Ja, das sagt er, und er meint damit nicht, dass die Rose nicht existiert (außerhalb des Bewusstseins), sondern er meint, dass wir über die außerhalb des Bewusstseins existierende Rose kaum etwas sagen können, weil wir eben, indem wir ein Ding nur „an sich selbst betrachten“, dieses außerhalb des Bewusstseins befindliche Ding immer schon filtern.“
Recht hast Du also zum Teil, wenn du sagst „er meint damit nicht, dass die Rose nicht existiert (außerhalb des Bewusstseins)“ Es ist, wie mit den Gottesbeweisen.
Aber ich erinnere, dass Lenin und nach ihm nicht nur die halbe Welt, einfach davon ausging, dass unsere Wahrnehmung mit dem Ansichsein (nach obiger Definition), d.h. mit der „wirklichen“ Rose (in einer „jenseitigen Welt“, jenseits des Bewußtseins) übereinstimmt, zumindest aber die Wahrnehmung über Instrumente wie dem Elektronenmikroskop usw…, und dass wir von dort affiziert würden.
Vielleicht kann man darüber streiten, ob die heutige Einbeziehung des sog. „Jenseits“, des Ansichseins, in die Struktur der „diesseitigen“ Erkenntnis erst dadurch möglich wurde, weil sich dieser Begriff inzwischen in dieser oder jener Bedeutung eingebürgert hat.
Jedenfalls hat Prauss seine frühere Ansicht dazu korrigiert.
Ich zitiere Prauss Bd.II/I Seite 144-145:
Und so wirft dies auch noch nachträglich ein helles Licht auf die Unmöglichkeit, wonach angeblich jene Heteronomie der »Reizung« und »Erregung« durch etwas »Begehrtes« eine Praxis in Bewegung setzt.
Doch was in diesem Fall von Praxis wohl bisher nur nicht gesehen worden ist(8), das ist in jenem Fall von Theorie ausdrücklich falsch gesehen worden und hat nachweislich zu einer grund-verfehlten Theorie geführt. Genau in dieser Hinsicht nämlich unterläuft bis heute ständig jener Fehler (9), der am krassesten bei Kant zutage tritt, weil er hier systematisch explizit wird: Daß im Fall von Theorie das jeweilige Objekt dieser Theorie es sei, was mit dem Subjekt dieser Theorie in irgendeinem Sinne wechselwirkt, das ist unhaltbar(10), wenn das jeweilige Objekt dieser Theorie das jeweilige Artefakt von dieser Theorie sein soll, worauf Kants Reflexion zuletzt unweigerlich hinausläuft. Denn als Artefakt von ihr kommt das Objekt zu jeder solchen Wechselwirkung mit dem Subjekt dieser Theorie dann immer schon zu spät. Und eben darin liegt denn auch der letzte Grund dafür, daß Kants Behauptung einer »Affektion“ des Subjekts dieser Theorie durch das Objekt derselben sich in keinem Sinn, den dieses Objekt innerhalb von Kants System besitzen kann, in dessen Systematik zirkel- oder widerspruchsfrei durchführen läßt: im Sinn des Objekts als empirischen genausowenig11 wie im Sinn des Objekts als Erscheinung oder Phänomen bzw. als Ansichsein.
(Fußnote 8: Erst nachdem ich dies geschrieben hatte, stieß ich darauf, daß dies gleichfalls falsch gesehen wird. So bei M.L.Gill, J.G.Lennox (Hg.): SelfMotion, Princeton 1994, 5. 108 f., wo das Herstellen einer Couch genau in diesem Sinn verfehlt wird.
Fußnote 9: Vgl. oben 5. 112ff., Anm.lff.
Fußnote 10: Eben dieses Unhaltbare aber hält man umgekehrt vielmehr geradezu für das Kriterium von Theorie oder Erkenntnis als empirischer. Nur dadurch, daß bei einer Wahrnehmung zum Beispiel es tatsächlich das Objekt von ihr sei, was dabei auf das Subjekt derselben einwirkt, künne es bei solcher Wahrnehmung sich um empirische Erkenntnis von ihm handeln, Theoretizismus, wie er falscher nicht mehr sein kann. Vgl. a.a.O., 5. 71f. Das Kriterium für Wahrnehmung ist vielmehr, daß das jeweils auftretende Sinnesdaten-Material zu einer Deutung als Versuch einer Erdeutung von etwas herangezogen wird, kurz: für das Intendieren von Erfolg als etwas Wirklich-Anderem, auch wenn es dadurch unverwirklicht bleibt. Denn Wahrnehmung gibt es doch auch als „falsche“, welche "falsch“ doch auch nur sein kann, wenn genau das Wahrgenommene etwas Wirklich-Anderes dabei gerade nicht ist und mithin auch einzuwirken dabei nicht vermag, gleichviel, was sonst einwirken mag.
Fußnote 11: Auch von dieser Einsicht war ich, als ich Kant und das Prohlem der Dinge an sich schrieb (Bonn 1974, 3.Aufl. 1989), noch weit entfernt: nicht nur von dem, was ich schon in Die Welt und wir, Band 1, Teil 1, S.278, Anm.37 eingesehen hatte.)
Deine Frage nach der Wirklichkeit liegt nach Prauss recht bescheiden in unserer (immer nur vorläufigen) Entscheidung, ob wir die Erkenntnis als „tatsächlich, faktisch, kontingent, will sagen, auch empirisch“ akzeptieren; mit anderen Worten, ob wir damit leben können.
Aber genau in dieser bescheidenen Zuordnung unserer Erkenntnis als Artefakt löst sich das lange und breit diskutierte Problem der menschlichen freien Entscheidungsmöglichkeit von selbst. (Ich erinnere an den verzweifelten Versuchen von Hans Jonas!)
Wie ist es also möglich, dass ein Mensch durch einfachen Entschluß in dieses „starr determinierte“, weil leblose Weltgeschehen eingreifen, es instrumentalisieren und gar in eine andere Richtung bewegen kann?
Ganz herzlich
Friedhelm Schulz