Hallo Gernot,
ja aber legt den nicht jeder Mensch letztlich sein Maß selber
fest? Ich messe mich an meinen eigenen Ansprüchen und
moralischen Wertvorstellungen, woran sonst?
doch, doch, da hast du natürlich Recht. Die Frage ist ja nur, ob er das berechtigt tut, also ob es irgendeinen Maßstab gibt, der nicht ignoriert werden darf bei dieser Einschätzung.
Es gibt solche Maße schon, die immer gültig sind, zum Beispiel die logischen Gesetze, der Satz vom Widerspruch oder der Satz vom ausgeschlossenen Dritten.
Warum verurteilen wir z. B. diejenigen, die in der Zeit zwischen 1933 und 1945 Dinge getan haben, von denen sie heute nichts mehr wissen wollen? Weil sie sich selbst widersprechen, indem sie ihre Taten relativieren. Jemanden, der diese Taten zugibt, aber sagt, dass es ihm Leid tut, ist für uns in der Regel glaubwürdiger als jemand, der sich an nichts erinnern kann oder will.
Das die zum großen Teil anerzogen oder auch einfach übernommen
sind, ist eine andere Sache. Denn im Endeffekt baue ich mir im
Kopf doch aus den verschiedenen Bruchstücken mein eigenes
Bild, an dem ich mich messe.
Auch hier sind die extremen Beispiele des 3. Reiches vielleicht hilfreich. Jemand der heute behauptet, was damals Recht war, könne heute kein Unrecht sein (z. B. Filbinger), zeigt, dass er den eigenen Maßstab zu sehr in den subjektiven Bereich verlegt hat. Denn selbstverständlich war das, was damals getan wurde, nicht etwa rechtens, sondern es entsprach nur den zu dieser Zeit bestehenden Gesetzen (und auch das nicht immer). Um die damaligen Taten zu rechtfertigen (mit seinem eigenen Maßstab) müsste man schon einen sehr extremen Rechtspositivismus einnehmen, der davon ausgeht, dass es Unsinn ist, von einem Naturrecht oder etwas Ähnlichem auszugehen.
Und letztlich: Natürlich spielt da die mich umgebende
Gesellschaft eine Rolle, und die verändert sich ja ständig.
Auch die allgemeinen grunsätze der alten Griechen mußten ja
erst einmal aufgestellt werden und sie müssen gesellschaftlich
auch erst einmal akzeptiert werden.
Was du hier ansprichst ist ganz richtig, es ist das Problem der Unterscheidung von „Genesis und Geltung“, von Entstehung und Bedeutung von Gesetzen. Es gibt aber - wie gesagt - Dinge, die gelten unabhängig von ihrer Entstehung. Banales Beispiel: 1+1=2, egal auch welche Weise ich diesen Satz gelernt habe.
Nach meiner Meinung braucht ein Maß einen Festpunkt, sonst
geht es nicht. Aber dieser Punkt kann nur durch
gesellschaftliche Übereinkunft entstehen und wenn sich die
Gesellschaft ändert… dann verrutscht eben auch der Punkt.
Das ist wieder das Problem, ob man die Handlungen vor 1945 mit den Maßstäben danach messen darf oder nicht. Oder ob man die Verhältnisse in der DDR mit den Gesetzen der BRD bestrafen darf.
Der Festpunkt ist - meiner Ansicht nach - zwar ein Festpunkt, den man aber nur innerhalb einer gewissen Spanne festlegen darf. Über diese Spanne hinaus ist der Festpunkt verwerflich.
Mir fällt gerade noch ein Beispiel aus der modernen Philosophie ein: die Transzendentalpragmatik von Karl-Otto Apel. Apel behauptet, dass man innerhalb einer Diskussion logisch-pragmatisch gezwungen ist, den anderen als gleichwertigen Diskussionspartner Ernst zu nehmen („neue deutsche Rechtschreibung“, sorry). Wenn man dies nicht mehr tut, verlässt man die Basis der Diskussion und verliert selbst den Anspruch darauf, Ernst genommen zu werden. Das wäre zum Beispiel so ein objektiver - oder wenn man will: intersubjektiver - Maßstab, den man nicht leugnen kann, ohne unglaubwürdig zu werden.
Herzliche Grüße
Thomas Miller