Das neue Kapitel der Menschheitsgeschichte

Was geschieht mit der Menschheit?
Was bedeuten moralische Werte, was bedeutet das menschliche Leben selbst im Blick auf die Katastrophe des 11.September?

Wie erleben wir die Geschehnisse, die uns aus dem Alltag reissen?

Kurz referiert:
Die Auswirkung des zum Symbol gewordenen Ausbruchs des Vesuvius am 24.8.79 („Die letzten Tage von Pompeii“, ca. 2.000 Opfer) auf die antike Welt und bis heute ist bekannt.
Die Wende in der abendländischen Aufklärung nach dem Erdbeben in Lissabon am 1.11.1755 (ca. 30.000 Opfer) z.B. bei Voltaire und Kant gehört auch zum Allgemeinwissen. Es führte in Europa u.a. zur Absage vom gerechten und gütigen Gottbildes, zu der Säkularisierung im direkten Sinne, so daß die Verantwortung zwischen dem christlichen Menschen und seinem Gott umverteilt wurde.
Ich weiß, das waren alles die Naturkatastrophen, für die der Gott die Verantwortung auch „trug“, wenn auch wider seinen Willen. Trotzdem: Wie hat die inzwischen gewachsene Welt auf den Vulkanausbruch auf Martinique 1902 reagiert (mehr als 26.000 Opfer)? Weiß es überhaupt noch jemand, wenn die Schulzeit Vergangenheit ist? Nicht mehr, weil die Insel in der Karibik liegt und nicht in Europa?.. Hat noch jemand in der Erinnerung die ca. 23.000 Opfer vom Vulkanausbruch in Kolumbien 1985? Und 100.000 Opfer vom Erdbeben in Japan (1923)? Und 240.000 in China (1976)? Und die der Überschwemmungen wie in China 1998?.. Wo sind Voltaire und Kant von heute?..

Kann ein einzelner Mensch. die gesamte Gesellschaft mit dem Druck solcher Zahlen
(z.B. http://www.in-chemnitz.de/michael.preissler/ws/geo/n… )
fertig werden? Wie funktioniert die Verdrängung? Wie wirkt sie aus?
Wieviel wert ist dann ein Menschenleben?

Ich lasse es zunächst einfach so im Raum stehen, weil es weiter geht.

Das 20. Jht hat sich mit den enorm vielen Genozid-Opfern verewigt - es beginnt mit dem Völkermord an den Armeniern 1915 (Türkei, ca. 1,5 Mln. Opfer), kulminiert mit dem Holocaust (ca. 6 Mln. Juden) und endet mit dem Genozid in Kambodscha unter Pol Pot (bis zu 2 Mln. Opfer) nicht. Die Sowjetunion unter Stalin, die Republik China unter Mao haben auf ähnliche Weise mehrere Dutzende Millionen von Menschen verloren. Diese staatlich koordinierte Verbrechen gegen die Menschheit bleiben bis heute nicht verarbeitet wie auch die der beiden Weltkriege. Man könnte sich fragen, wie auch? wie kann man es auffassen? Diese Zeit brachte System der geschafften Feind- und Haßbilder und hinterliess Spuren, die sich einerseits bis zu den Kreuzzügen verfolgen lassen (auch in der Sprache der Zeit fand es den Ausdruck), andererseits heute noch neue Ausgeburte erzeugen, weil die Vernunft schläft.

Es ist aber immer noch nicht alles: Hiroshima und Nagasaki stehen noch einmal mit mehreren hundertentausend von Opfern für eine neue Dimension der Vernichtung der Menschen durch Menschen. Die Bewältigung der neuen ständigen Bedrohung durch die „Bombe“ u.a. in der Literatur hat im historischen Sinne erst begonnen. Die Beschleunigung des historischen Prozesses wirkt zerstörerisch auf die Gesellschaft, da sie keinen Raum, keine Zeit für die Verarbeitung der Existenzangst bzw. Gewöhnung zulässt.

Dann kommt die Katastrophe in Tschernobyl, die eigentlich die letzte des 20. Jhts werden sollte, die nicht zu übertreffen schien. Die Strahlenbelastung betrug wenigstens hundertmal mehr als bei Hiroshima und Nagasaki-Explosionen. Noch einmal Millionen, die darunter leiden. Tschernobyl bleibt als Symbol für alle Umweltkatastrophen da, die der Mensch selbst angerichtet hat. Wurde sie aber verarbeitet?

Über die Terroristentätigkeit wurde schon genug geschrieben wie auch über das Phänomen selbst. Die Anschläge vom 11. September zeigen eine neue Dimension des Terrors. Erstens, es gibt gegen sie eigentlich keinen Schutz. Die gesamte staatliche Gewalt war und bleibt hilflos dagegen. Zweitens, die mediale und politische Instrumentalisierung des Anschlags wollen beide Seiten, Terroristen sowie Politiker, wie schrecklich. Die Opfer bleiben auf der Strecke. Helden des vierten Flugzeuges sind zu bewundern. Aber wie? Wenn wir Glück haben, kommen die Politiker zum Nachdenken über die Ursachen. Vorerst sieht es aber nicht danach aus…

Schon aus dieser (sicherlich unvollständigen) Auflistung wird es klar: Es ist zu viel Grauen, man schafft es einfach nicht, das alles zu verarbeiten, was geschieht. Es wird nicht verarbeitet, sondern eingefroren, Schicht für Schicht. Und dann kann es passieren. Die Existentangst wächst und schlägt irgendwann um. Nicht nur das Leben der anderen verliert an Wert, sondern das eigene auch.
Dazu kommt dieselbe Beschleunigung bei der Zerstörung der gewohnten Umgebung der traditionellen Kulturen. Die ganzen Völker des Ostens werden in die westliche Zivilisation geschleudert, ohne gefragt zu werden. Der Selbstschutz von der Modernisierung kann grausam werden, das haben wir eben - nicht zum ersten Mal, aber diesmal in einer neuer Form - erlebt. Es reicht dann, wenn sich nur eine winzig kleine Minderheit auf diese Weise verteidigt. Und das ist noch eine Ursache für das, was geschieht.

Strategie:

  • Anerkennung der Globalisierung (-> Reform der UNO, der weltwirtschaftlichen Verhältnissen etc., Medienreform, Erziehung zur Toleranz usw.)
  • Aufbau der Schutzmechanismen (-> Luftsicherheit, überhaupt Schließung aller möglicher Sicherheitslücken)
  • Selbsterziehung zum Mitleid (-> d.h. nicht staatlich verordnete fünfminutige Besinnung, nicht heiße Streitgespräche im Internet, sondern die menschliche Taten hier und jetzt…)

etwas zum lesen:

http://www.uni-muenster.de/PeaCon/wuf/wf-95/9510901m…
http://www.culture.hu-berlin.de/HB/Texte/natsub/apok…
http://www.sterneck.net/cybertribe/parin/
http://www.gwdg.de/~kflechs/iikdiaps3-96.htm
(oder http://www.ups-schulen.de/forum/01-1/forum-10-21.pdf )
http://www.xdobry.de/artur/problemj.html

es tut mir leid, daß es so viel wurde, ich habe aber gekürzt, ehrlich :smile:

thnx
Danke, peet, das ist eine sehr interessante Zusammenstellung von Links - oder besser gesagt: von Überlegungen und Perspektiven

Grüße
Metapher

Ergänzung zu Modernisierung/Globalisierung
Nie hätte ich gedacht, daß ich Derrida zur Bestätigung meiner Meinung zitieren würde :smile:
Es steht heute aber in der Zeitung:
http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/artikel80566.php

Leider steht ein ähnlich guter Text von Virilio bei FAZ nicht online. Dafür aber noch ein ziemlich starker offener Brief von einem bis dato mir unbekannten Politologen Benjamin Barber
http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/artikel80557.php

Bitte um Verständnis, daß ich nur solche große Kollegen zitiere, deren Meinung ich teile :smile:

Eigentlich wollte ich noch Umberto Eco verlinken, der aber eher plaudert als strukturierte Meinung äußert. Es ist aber auch so gut zu gebrauchen:
http://www.fr-aktuell.de/fr/231/t231023.htm
Noch ein italienischer Politologe Alessandro Portelli hat etwas lesenswertes publiziert:
http://ip5.ilmanifesto.it/php3/ric_view.php3?page=/Q…
(leider nur in Italienisch)

Ich höre auf, aber das alles ist einer Lektüre wert :smile: