Das Primat der praktischen Vernunft bei Kant

Hallo!

Hume und Kant legen ja beide größtes Gewicht auf die
Moralphilosophie. So sagt Hume etwa im Treatise: „Der Bereich des Moralischen interessiert uns mehr als alles andere.“ Kant spricht bekanntlicherweise in der KpV von dem „Primat“ der praktischen Vernunft im Bezug auf die theoretische, „…weil alles Interesse zuletzt praktisch ist und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauch allein vollständig ist.“ (2. Hauptstück, III.)
Nicht umsonst begeistert sich Kant auch an dem moralischen Gesetz (ausdrücklich tut er selbiges etwa im Beschluß der KpV), weil es den Wert des Menschen als einer Intelligenz erhebt (im Gegensatz zur theoretischen Philosophie, die „meine Wichtigkeit [vernichtet] als eines tierischen Geschöpfs“)

Kann man nun sagen, dass dies zeigt, wie sehr die beiden Philosophen dem Projekt der Aufklärung verbunden sind? Die Loslösung vom Glauben hinsichtlich der Beantwortung grundlegender Fragen, die Suche nach einer angemessenen Form menschlichen Zusammenlebens etwa, die sich nicht auf die Glaubenssätze der Kirche und das Geschichtsverständnis der Regierenden beruft, wäre ja als ein solches Anliegen der Aufklärung anzusehen. Es geht mE auch um eine Emanzipation des Menschen vom Glauben. Moral sollte ohne Rekurs auf das Jenseits begründet werden. Hume wie auch Kant (auch wenn dieser Gott in der KpV zumindest als Postulat beibehält, was für Gläubige gleichwohl ein Affront sein muss - betrachtet man genauer die Rolle, die Kant Gott zuschreibt) hatten aufgrund ihrer Schriften Probleme mit der Kirche, die ich auch in diesem Zusammenhang ansiedeln würde. Hinter dieser Art des Philosophierens steckt, platt gesagt, auch ein unheimliches Vertrauen auf den Menschen, auf Argumente, auf Freiheit.

Würde mich sehr freuen, wenn jemand mir seine Meinung kund täte bzw. meine Frage beantwortete!

Hallo,

Kant spricht bekanntlicherweise in der KpV von dem „Primat“ der
praktischen Vernunft im Bezug auf die theoretische, „…weil
alles Interesse zuletzt praktisch ist und selbst das der
spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauch
allein vollständig ist.“ (2. Hauptstück, III.)

Achtung: Die praktische Philosophie hat den Primat nur in Bezug auf die Zielsetzung, nicht aber hinsichtlich der Begründungsfunktion! Das wird häufig verwechselt und führt zu Irrtümern.

Kann man nun sagen, dass dies zeigt, wie sehr die beiden
Philosophen dem Projekt der Aufklärung verbunden sind?

Das kann man ganz sicher sagen, aber man muss es erläutern, indem man darauf hinweist, dass Kant keineswegs daran denkt, das Handeln von der Theorie (also von der Reflexion über die Handlungsgründe) abzukoppeln. Die Freiheit des Handelns ist ja auch nicht grenzenlos (z. B. in Militär, Kirche, wo man - wenn man integriert ist - auch nach Kant gehorchen muss).

Es geht mE auch um eine Emanzipation des Menschen vom Glauben.

„Ich muss das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen!“

hatten aufgrund ihrer Schriften Probleme mit der Kirche, die ich auch in
diesem Zusammenhang ansiedeln würde.

Lies nochmal den Abschnitt über die Religionsschrift im Kant-Handbuch (S. 43-45), da werden die Zusammenhänge klar dargestellt.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo,

die Schnelligkeit deines Antwortens frappiert mich immer wieder!

Darf ich noch einmal ganz doof nachhaken, inwiefern das Primat nur hinsichtlich der Zielsetzung und nicht hinsichtlich der Begründung besteht?
Genauer gesagt: Wie meinst du das, „Zielsetzung“ und „Begründung“?

Geht es da um die Kantische Zielsetzung, wie er sie mit seiner gesamten Philosophie verfolgt? Bei „Begründung“ denke ich natürlich gleich an die Begründung von Moral und die geschieht ja durch die Vernunft. Möchtest du mit deiner Aussage:

„Achtung: Die praktische Philosophie hat den Primat nur in Bezug auf die Zielsetzung, nicht aber hinsichtlich der Begründungsfunktion! Das wird häufig verwechselt und führt zu Irrtümern.“

also sagen, dass Moral nicht durch Praxis, sondern durch reine Vernunft begründet wird (und insofern reine Vernunft und nicht Praxis begründend wirkt), aber Moralphilosophie einfach DAS Thema von Kant ist (und insofern das Primat in Bezug auf die Zielsetzung hat)?

Außerdem wäre es sehr spannend für mich, wenn du mir ein paar Beispiele für Irrtümer geben könntest!

Hallo,

inwiefern das Primat nur hinsichtlich der Zielsetzung und nicht hinsichtlich
der Begründung besteht?

die Ausführung einer praktischen Philosophie ist grundsätzlich von der theoretischen Philosophie abhängig. Man kann keine praktische Philosophie bauen, die der theoretischen widerspricht, umgekehrt geht das aber sehr wohl. Deshalb hat die theoret. Phil. den Primat hinsichtlich der Begründung.

Der Primat der prakt. Phil. besagt, dass wir unsere Erkenntnisse bzw. unsere Erkenntnisinteressen daraufhin anlegen, dass sie für uns nützlich sind. Das ist bei Kant aber kein Utilitarismus, eben weil dieser Primat nicht nach dem „wieso“ fragt, sondern nach dem „wozu“.

Genauer gesagt: Wie meinst du das, „Zielsetzung“ und „Begründung“?

Die Frage nach dem „warum“ ist nicht eindeutig, sondern kann sich also Frage nach dem Wieso, dem Weshalb, dem Wozu etc. gestalten.

Außerdem wäre es sehr spannend für mich, wenn du mir ein paar
Beispiele für Irrtümer geben könntest!

Ein Beispiel habe ich schon genannt, die Inbeschlagnahme Kants für den Utilitarismus; ein anderes Beispiel wäre eine pragmatische Interpretation Kants.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo,

das verstehe ich gut, dass nämlich die praktische Philosophie nicht im Gegensatz etwa zu den Naturgesetzen stehen darf, insofern also nicht der theoretischen Philosophie und ihren Erkenntnissen widersprechen darf, wohingegen die theoretische hier „freier“ sein kann. Den Begründungskontext verstehe ich, denke ich.

Der Primat der prakt. Phil. besagt, dass wir unsere Erkenntnisse bzw. unsere Erkenntnisinteressen daraufhin anlegen, dass sie für uns nützlich sind. Das ist bei Kant aber kein Utilitarismus, eben weil dieser Primat nicht nach dem „wieso“ fragt, sondern nach dem „wozu“

Verstehe ich aber auch diesen deinen Ausspruch richtig, wenn ich Kant also unterstelle, dass er darauf hinaus will (Zielsetzung), dass Philosophie etwas mit uns als (praktischen) Menschen zu tun haben muss, uns und unsere Lebenssituation, Möglichkeiten und insbesondere das Zusammenleben betreffen soll; auf unsere Fragen, die wir stellen, antworten soll und insofern für uns „nützlich“ i. S. von „relevant für das Leben“ ist („Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ - diese Fragestellungen Kants verweisen für mich schon darauf)? Ist die Frage nach dem „wozu“ die Frage nach der Moral?
Ich habe jetzt, gerade nach der Beschäftigung mit Hume, einfach große Probleme mit dem Wort „nützlich“. Wie ist das genau bei Kant gemeint? Kant würde ja soetwas nicht sagen, oder? Wie würde er das formulieren?

Schönen Gruss!

Hallo,

Verstehe ich aber auch diesen deinen Ausspruch richtig, wenn
ich Kant also unterstelle, dass er darauf hinaus will
(Zielsetzung), dass Philosophie etwas mit uns als
(praktischen) Menschen zu tun haben muss, uns und unsere
Lebenssituation, Möglichkeiten und insbesondere das
Zusammenleben betreffen soll; auf unsere Fragen, die wir
stellen, antworten soll und insofern für uns „nützlich“ i. S.
von „relevant für das Leben“ ist („Was kann ich wissen? Was
soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ -
diese Fragestellungen Kants verweisen für mich schon darauf)?

Kants Philosophie ist zwar als solche keine reine Anthropologie, aber der anthropologische Charakter ist immer offensichtlich. Philosophie ist bei Kant nicht für Gott oder sonst jemanden gedacht, sondern am Menschen und seinen Bedürfnisse orientiert. Insofern hast du mit deiner Formulierung Recht, wenn du nicht zu „alltagsbezogen“ auffasst.

Ist die Frage nach dem „wozu“ die Frage nach der Moral?

Eindeutig nein.

Ich habe jetzt, gerade nach der Beschäftigung mit Hume,
einfach große Probleme mit dem Wort „nützlich“. Wie ist das
genau bei Kant gemeint? Kant würde ja soetwas nicht sagen,
oder? Wie würde er das formulieren?

Das Wort „nützlich“ habe ich verwendet, um deutlich zu machen, dass der menschliche Bezug nach Kant leitend sein soll. Das schließt natürlich nicht aus, dass es Fragen (und Antworten) gibt, die zunächst nichts mit dem Menschen zu tun haben (z. B. Kosmologie). Bei näherem Hinsehen zeigt sich dann aber doch, dass ein Bezug besteht, nämlich etwa bei Fragen nach der Unendlichkeit (etwa im Vergleich mit der Unsterblichkeit).

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo,

ich denke, jetzt habe ich deine Rede wirklich verstanden (ein schönes Gefühl!).

Nur da stehe ich noch ein wenig im Dunkeln:

„Ist die Frage nach dem „wozu“ die Frage nach der Moral?
Eindeutig nein.“

Vielleichst magst du mir nochmal sagen, was die Frage nach dem „wozu“ ist?

Ansonsten: Wenn Hume sagen würde, dass wir moralisch sein sollen weil es nützlich und angenehm für uns und andere (das Gemeinwohl) ist, könnte man dann mit Kant
sagen, dass wir moralisch sein sollen, weil es uns die Vernunft gebietet? Wäre das die richtige Stoßrichtung der Argumentation? (Anbei: Wir machen uns ja Kant auch immerhin der Glückseligkeit würdig, wenn wir moralisch sind…)

Lieben Gruss!

Hallo,

Vielleichst magst du mir nochmal sagen, was die Frage nach dem
„wozu“ ist?

die Frage „Wozu“ ist die Frage nach dem Ziel oder der Absicht, also ein teleologische Frage.

Ansonsten: Wenn Hume sagen würde, dass wir moralisch sein
sollen weil es nützlich und angenehm für uns und andere (das
Gemeinwohl) ist, könnte man dann mit Kant
sagen, dass wir moralisch sein sollen, weil es uns die
Vernunft gebietet? Wäre das die richtige Stoßrichtung der
Argumentation? (Anbei: Wir machen uns ja Kant auch immerhin
der Glückseligkeit würdig, wenn wir moralisch sind…)

Genau, die Glückseligkeit ist wie die Nützlichkeit eine schöne Beigabe, aber nicht die „Richtschnur“ bei Kant, schon gar nicht für moralisches Handeln. Ja, das kannst du so formulieren (um Missverständnisse zu vermeiden!).

Herzliche Grüße

Thomas Miller