Das Zeitmodell bei Gerold Prauss

Ich finde den Vorschlag von Romana recht gut. Leider funktioniert dort der Tag für’s Antworten nicht.
Ich las über die Feiertage nochmal über das Praussche Zeitmodell aus „Die Welt und wir“ Band 1/II ab Seite 324, und stieß auf zwei Denkschwierigkeiten:
Prauss, Seite 324: "Was aus dem Modell für Sie hervorgeht, ist denn auch nicht nur:
Es müssen Punkt und Ausdehnung zusammen jene Gattung bilden für die beiden Arten des Verhältnisses von Punkt und Ausdehnung im Fall von Zeit und Raum, von denen also jedes eine Spezifikation von Punkt und Ausdehnung zusammen sein muß, was zunächst für sich allein schon merkwürdig genug ist. Vielmehr geht aus dem Modell für Zeit des weiteren hervor, daß zwischen Punkt und Ausdehnung bereits auf Gattungsebene ein asymmetrisches Verhältnis walten muß. Denn angemessen läßt sich dies Verhältnis nur als das von Punkt mit Ausdehnung bezeichnen, und nicht etwa umgekehrt als das von Ausdehnung mit Punkt, was noch viel merkwürdiger ist.
Ist das Spezifische der Zeit doch danach nicht einfach, daß sie ein Fall von Punkt mit Ausdehnung sein muß. Denn das ist bloß ihr Generelles, das sie danach mit dem Raum gemeinsam haben müßte. Ihr Spezifisches ist danach vielmehr, daß die Zeit ein Fall von Punkt mit Ausdehnung nur innerhalb von sich sein muß. Infolgedessen müßte das Spezifische des Raumes denn auch eben daraus, nämlich durch Negierung eben davon, sich ergeben: durch Negierung des Spezifischen der Zeit. Und die Negierung davon lautet eben dahingehend, daß der Raum dann wie die Zeit ein Fall von Punkt mit Ausdehnung sein müßte, doch ein Fall von Punkt mit Ausdehnung gerade nicht »nur innerhalb von sich« sein könnte. Und das hieße, positiv gewendet, daß der Raum ein Fall von Punkt mit Ausdehnung auch außerhalb von sich sein müßte.
Zeit und Raum, die bisher als undefinierbar gelten, wären damit erstmals definiert, und zwar auch förmlich schulgerecht nach Art

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und Gattung. Und sie wären es in einem Sinn, in welchem das Spezifische des Raums, wonach er Ausdehnung stets außerhalb von Punkt bzw. Punktuellem ist, als hergeleitet gelten könnte, nämlich aus der Zeit. Und so kann eine Herleitung hier auch nur einseitig erfolgen, nur als Herleitung von Raum aus Zeit, und nicht etwa genausogut auch umgekehrt, als Herleitung von Zeit aus Raum."

Friedhelm Schulz: An dieser Stelle könnte es scheinen, als fehlten hier einige entscheidende Seiten der sonst immer recht ausführlichen Herleitung. Ist es doch gerade das Faszinierende an dem Zeitmodel, dass hier im nicht statischen oder im nicht vorausgesetzten Raum und nicht ruhendem Punkt sowohl Räumliches als jeweils Statisches wie Zeit als Dynamisches- also beides – als punktförmiges Auseinander zusammen ist. Der Unterschied von punktueller Zeit und punktuellem Raum, besteht im Konjunktiv angenommen offenbar darin, dass bei Letzterem, bei Raumpunkt „Ausdehnung auch außerhalb von sich sein müsste.“ Aber wie und wodurch und vor allen Dingen ‚wo’, wenn Raum nicht vorausgesetzt wird. Und wie und wo auch immer, jedenfalls aber doch nicht nur außerhalb von sich.

Das Zeitmodell: (Prauss, Seite 321-322) „Denn angenommen, mittels eines Kreidestücks zum Beispiel tue ich mit einer Hand genau das, was ich tue, wenn ich eine geometrisch ideale Linie in einem Zuge zeichne, lasse dabei aber mit der andern Hand unmittelbar im Anschluß an das Kreidestück noch einen Schwamm so folgen, daß durch diese Art von einem Zug bereits von vornherein nicht eine Linie, sondern immer wieder nur ein Punkt entspringt. Dann bildet sich dadurch ein Gegenstand, der zwar desgleichen geometrisch ideal und geometrisch existent sein muß, doch weder Punkt im Unterschied zu Linie noch Linie im Unterschied zu Punkt sein kann, sondern nur ein bestimmtes Zwischending dazwischen.

4 Wenn es Ihnen nicht genau genug ist, dieses Zeit-Modell vermittels Kreidestück und Schwamm und Tafel zu gewinnen, können Sie es absolut-exakt durch eine bloße Forderung erzeugen. Widerspruchsfrei ist es nämlich, folgendes zu fordern: Angenommen werde das dynamische Erzeugen einer geometrisch-idealen Linie in einem Zug als das dynamische Ausdehnen eines geometrisch-idealen Punktes. Durch ein solches Ausdehnen sei dann auch eine Richtung dieses Ausdehnens sowie die zu ihr umgekehrte Richtung festgelegt. Und da ein solches Ausdehnen ja kontingent sei, lasse dann auch zusätzlich noch folgendes sich annehmen: In einem Zug erfolge solches Ausdehnen, indem genau so viel an Ausdehnung, wie dabei in der einen Richtung je und je entstehe, in der umgekehrten Richtung dabei je und je vergehe. Diese Forderung führt absolut-exakt zu dem Ergebnis jenes geometrisch-idealen Zwischendings von Punkt und Linie.“

Friedhelm Schulz: Hier greift Prauss, wie ich es nennen will, einfach an das Geländer des Selbstverständlichen, und wahrscheinlich deswegen, um sofort und zügig vom konsekutiven „dass“ aus auf das „wie“ zu kommen, wobei er einfach das Wesen des räumlichen Auseinander als Zugleich als die Negation des dynamischen Nacheinander von Zeitpunkt feststellt und als das existierende Zugleich auch innerhalb von Zeitpunkt definiert.
Dies ist schwer zu denken.
Und es besteht die Gefahr, sich ab dieser zentralen Stelle der Prausschen Ausführung falsch in Ablehnung des Modells festzufahren: Verläuft nicht die Negation gerade umgekehrt? Wird doch umgekehrt jener Zeitpunkt durch Negation des Räumlichen erst wirklich. Ist doch in dem Zeitmodell gerade der löschende Schwamm nahezu wortwörtlich Sinnbild der Negation der Linie, des Räumlichen, und zwar Sinnbild der ohne ihn entstehenden und dann dauernd bestehenden Ausbreitung der Linie als bleibendes Zugleich außerhalb des Punktes, und zwar faktisch wie dann auch sinnbildlich. Sind nicht Striche auf dem Zifferblatt der Uhr oder an der Wand der Gefängniszelle geradezu Zeichen für vergangene Sekunden, Stunden, Tage oder Jahre?
Damit wäre aber Raum und Zeit, nämlich als Tafel und Schwamm vorausgesetzt.
Um aber als Modell brauchbar zu sein, muß selbstverständlich beides ja zurückgenommen werden, wenn vom Punkt ausgehend (statt zum Punkt hin führend) Zeit und Raum synthetisch entwickelt und daraus ihre Struktur und ihr Verhältnis zueinander verstanden werden soll. Genau dafür müssen wir zuerst mit Hilfe des Modells zum Anfang der Welt, quasi zum Urknall aller Dinge, zum ersten Entstehen von Zeit und Raum zurück, - wie es uns mit Hilfe des Modells bewusst werden kann: Das heißt als Erkenntnis, als Aktion oder Praktizität, nicht als passive Rezeption des bereits bestehenden, sondern durch die Negation des nur zeitlichen Auseinander als Nacheinander innerhalb des Punktes, was dann in der Weiterführung erst als Nicht-Ich zu etwas anderem als Ich wird, außerhalb des Punktes, nämlich räumliches Zugleich als Auseinander von Zugleich, von Bestehendem, eben von Körper und Materie und ihren bleibenden Gesetzen.

Aber vorerst bleibt auch noch die Frage: Wer oder was negiert hier; wozu und wodurch entsteht oder besteht etwas allein durch Negation? Durch Negieren eines Hundes etwa, was soll dadurch existieren? Bestenfalls doch nur ein Nichthund!
Man muß hier einen naheliegenden Denkfehler vermeiden, auf den Prauss hier nicht aufmerksam macht (siehe aber Seite 250). Wenn man sich nämlich Zeitpunkt und Raumpunkt im Punkt als Zweierlei oder gar als zwei Punkte in einem Punkt denkt, dann entstünde womöglich räumliche Ausdehnung als Zugleich auch außerhalb von sich logischer Weise aus dem Raumpunkt – wie auch immer – und resultierte eben nicht aus der Zeit, worauf Prauss aber hinaus will;

Zeitpunkt und Raumpunkt sind aber nicht Zweierlei, sind nicht zwei Punkte und auch nicht zwei Koordinaten innerhalb des Punktes!. Zugleich und Nacheinander, wobei Zugleich von Auseinander auch außerhalb des Punktes die Negation ist von Nacheinander nur innerhalb des Punktes ist, aber als Zugleich von räumlichem Auseinander eben nur außerhalb des Punktes.
Die Antwort hier lautet eben nicht einfach: Es ist so: Denn das Zugleich des Räumlichen ist die Negation von Nacheinander des Zeitlichen nur innerhalb des Punktes eben nicht als Unzeit oder Nicht-Zeit, sondern als eine andere Art des Auseinander, so wie Nichthund dann durchaus etwas sein und z.B. Katze bedeuten kann.
Während aber in diesem Vergleich Hund und Katze durchaus als ein symmetrisches Verhältnis gesehen werden kann, Nicht-Hund kann Katze und Nicht-Katze kann Hund bedeuten, ist das Verhältnis von „Nur in sich“ des Punktes und „Nicht nur in sich“ und beides als Ausdehung ein asymmetrisches. Vom Auseinander als Zugleich eben außerhalb von Punkt als Raum trifft beides sowohl für Hund wie für Katze aber auch für alles Empirische zu, da kann als Negation nur soweit gelten, soweit solche Negation – wie aber auch das Negierte - im Empirischen liegt und Zeit empirisch als etwas Lineares verfälscht (wie es Prauss ausdrückt), d.h. physikalisch berechenbar gemacht wurde, nicht aber für die innere Struktur des Zeitpunktes. Der Punkt selbst in seiner inneren Struktur von unverfälschten Zeit ist und bleibt praktisch die Voraussetzung jeder möglichen Verneinung im Empirischen und wäre anders nichts weiter als die Verneinung der Verneinung, - schlimmstenfalls Selbstmord.
Hier jedoch liegt der eigentliche Schritt weiter in der Philosophie, die eigentliche Vision oder Botschaft bzw. Projektion, Theorie, Aussage oder These, wie man will, von Prauss, worin eine einfache menschliche Absicht und Handlung widerspruchsfrei denkbar wird. Der Bereich des Empirischen wird neu definiert und seine Grenzen neu aufgezeigt. Prauss nennt ihn das Newtonsche Gefängnis, solange und soweit man glaubt, aus diesem Produkt der Negation des „Nur in sich selbst“ allein die Welt als Objektivität erklären und verstehen zu können.
Prauss, Seite 327: "Als ein Nacheinander und Zugleich sind Zeit und Raum durch die Definitionen gegensätzlicher Verhältnisse von Punkt und Ausdehnung genau in dem Sinn definiert, daß Punkt und Ausdehnung im Fall der Zeit nur ein dynamisches Verhältnis miteinander bilden, während Punkt und Ausdehnung im Fall des Raumes nur ein statisches Verhältnis miteinander bilden, worin Zeit und Raum, als Nacheinander und Zugleich, ihr eigentliches Wesen haben.

Seite 325: Setzt dabei die Definition des Raumes die der Zeit doch schon voraus, wogegen die Definition der Zeit durchaus nicht etwa umgekehrt auch die des Raumes schon voraussetzt. Denn der Punkt mit Ausdehnung, von dem es darin heißt, er habe Ausdehnung gerade nicht »nur innerhalb von sich«, als Zeit, sondern auch »außerhalb von sich«, als Raum, ist ja in jedem Fall der Punkt der Zeit. Hat er doch Ausdehnung, indem er sie gerade »nicht nur« innerhalb von sich, sondern »auch« außerhalb von sich hat, dann in jedem Fall »auch« innerhalb von sich, wodurch er als die Zeit dem Raum zugrunde liegt, nicht umgekehrt.
Das je Spezifische von Zeit und Raum, und damit auch die Definierbarkeit von beiden, hängt sonach entscheidend davon ab, daß Punkt und Ausdehnung dabei nicht nur zusammenhängen, sondern auch von vornherein, bereits auf Gattungsebene, ein asymmetrisches Verhältnis zueinander bilden: das von Punkt mit Ausdehnung, und nicht etwa das umgekehrte: das von Ausdehnung mit Punkt. Um dies zu sehen, brauchen Sie nur zu versuchen, jene Art der Spezifikation von beiden dadurch vorzunehmen, daß Sie dabei umgekehrt von Ausdehnung mit Punkt ausgehen. Dann sehen Sie sofort, daß dadurch jede Möglichkeit für solche Spezifikation von vornherein entfällt. Denn durch die Charakterisierung einer Ausdehnung mit Punkt nur innerhalb von sich und einer Ausdehnung mit Punkt gerade nicht »nur innerhalb von sich«, sondern auch außerhalb von sich, vermögen Sie dann weder das Spezifische der Zeit noch das Spezifische des Raumes anzugeben. Vielmehr setzen Sie dadurch das letztere einfach voraus. Indem Sie nämlich von der Ausdehnung ausgehen und den Punkt zu ihr erst in das eine oder andere Verhältnis setzen, sind Sie wegen des Normalsinns beider außerstande, über die Verhältnisse hinauszukommen, welche zwischen Ausdehnung und Punkt im Fall des Raums bestehen. Denn jede Ausdehnung von Raum — ob nun von Linie, Fläche oder Körper — ist von der Art, daß sie Ausdehnung mit Punkt sein kann: sei es nur innerhalb von sich, sei es auch

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außerhalb von sich, oder mit Punkt als Grenze an sich, wie etwa die Linie als Strecke. Und das gilt genau entsprechend auch für die durch eindimensionalen Raum verfälschte Zeit.
Daran sehen Sie mit letzter Deutlichkeit: Das je Spezifische von Zeit und Raum läßt sich nur definieren, indem Sie umgekehrt gerade nur vom Punkt ausgehen und die Ausdehnung zu ihm erst in das eine oder andere Verhältnis setzen. Förmlich offenkundig nämlich wird daran, daß dieser Punkt dabei von vornherein den Vorrang haben muß und diese Ausdehnung dabei von vornherein den Nachrang. Also hängt das je Spezifische von Zeit und Raum —und dementsprechend das Informative der Definition von beiden —auch von vornherein von diesem asymmetrischen Verhältnis zwischen Ausdehnung und Punkt ab, worin letzterer vor ersterer von vornherein den Vorrang hat. Und nur, weil man dabei den Punkt bisher noch nicht einmal berücksichtigt, geschweige denn als vorrangig erkannt hat, hielt man Zeit wie Raum einfach für Arten bloßer Ausdehnung und wunderte sich darüber, daß sie als solche sich nicht definieren ließen. Nur daß dies auch bloß ein selbst-gemachtes Scheinproblem ist, wie das Zeit-Modell es als ein solches dann entlarvt."

ich hoffe, die Zitate sind nicht zu lang.
Allen wünsche ich ein gutes Neues Jahr 2006

Friedhelm Schulz