Daumenlutschen abgewöhnen

Hallo,

unser Sohn ist fast 4 Jahre alt. Als Baby hat er den Schnuller abgelehnt und den Daumen bevorzugt. Leider ist diese Angewohnheit bisher geblieben.
Seit ein paar Wochen ist nun noch eine weitere „Macke“ hinzu gekommen. Während er am Daumen nuckelt, streicht er sich mit dem Mittelfinger über die Wange. Immer über die gleiche Stelle. Dieser Bereich wird nun rot und ist manchmal leicht aufgekratzt. Da die Haut nun einer Dauerbelastung ausgesetzt ist, hat sie keine Chance zu heilen. Zur Zeit behelfen wir uns mit kleinen runden Pflasterchen auf jeder Wange, aber ich finde, das ist kein Dauerzustand…

Mein Mann würde das Problem ziemlich rigoros angehen, indem er für eine gewisse Zeit die Daumen wegbindet bzw. Handschuhe überzieht. Ich finde das falsch, zumal wohl auch der Kindergarten da nicht mitmachen würde.

Wie könnten wir ihm denn sonst das Daumenlutschen abgewöhnen? Reine Willenskraft durch Vernunft kann man bei einer so automatisierten und sicher Schutz bietenden Verhaltensweise nicht erwarten.

Wobei ich eigentlich gar nicht sagen kann, woran es ihm fehlen könnte. Da er sehr anlehnungsbedürftig ist, kuscheln wir oft mit ihm. Er nuckelt vorrangig, wenn er müde oder entspannt und in sich versunken ist.

(Eigentlich wollte ich es nicht erwähnen, aber vielleicht spielt es doch eine Rolle : er ist Mittelkind, hat 2Schwestern -7 & 1- aber wie schon beschrieben, glauben wir nicht, dass er was Nähe und Zuwendung betrifft zu kurz kommt.)

Über einen hilfreichen Rat wäre ich sehr dankbar.

Hallo,

Tut mir leid, bin ich spontan überfragt…

Gruß

Hallo,

„reine Willenskraft durch Vernunft“ ist alleine schon aufgrund des Alters nicht zu erwarten…

Und warum sollte er es wollen? Für ihn ist das ja kein Problem, sondern eher eine Lösung. Er fühlt sich doch wohl damit. Es beruhigt ihn, fühlt sich gut und richtig an, ist Teil einer Gewohnheit…

Kleines Experiment:

Wissen Sie, welchen Daumen sie oben haben, wenn Sie Ihre Hände in einander verschränken/falten? Überlegen Sie - bevor Sie es ausprobieren. Ist immer der gleiche Daumen oben? Wenn ja, welcher?

Jetzt probieren. Und?

Die eine Variante fühlte sich richtig an - die andere nicht. Oder?

Die „richtige“ Variante, das ist die Gewohnheit. Diese Kombination von Rückmeldungen an das Gehirn, der vielen Lagerezeptoren, ist bekannt. Das ist sozusagen „vollautomatisch“ abgespeichert. Die andere nicht…

So „richtig“ und vertraut (und somit angenehm, zeitweise auch beruhigend) fühlt sich der Daumen im Mund an. Er hat keinerlei Grund, daran ´was zu ändern. Dass Sie das wollen… ist einem Vierjährigen egal. Es ist nicht intrinsich motiviert (er will es nicht selbst).

Zudem ist es, als jahrelang eingeübte Gewohnheit, schon lange kein bewusst gesteuerter Prozess (i.S.v. „ach, was könnte ich jetzt mal tun? Och, ich stecke mir nun den Daumen der re/li Hand in den Mund“).

Sie kennen solche Gewohnheiten, eingefahrenen Bewegungsabläufe auch von sich. Oder überlegen Sie noch beim Spurwechsel beim Autofahren, wie die Reihenfolge (Spiegelblick, Blinken, Schulterblick, Rüberfahren) war? So etwas passiert mitunter in einem fast tranceähnlichen Zustand.

Es geht darum, diese Handlung wieder auf die bewusste (und somit beeinflussbare) Ebene zu bringen. Diese neue Angewohnheit dürfte dabei leichter zu verändern sein, als das Daumenlutschen selbst.

Was Sie versuchen könnten (aber evtl. ist er dafür noch zu jung):
"Hm, Du lutschst, wenn du müde bist (etc.) gerne am Daumen. Du nimmst immer den Daumen der re/li Hand. Hm, ich habe darüber nachgedacht. Und ich bin mir sicher, der andere Daumen und die anderen Finger fühlen sich ganz vernachlässigt. Die wollen auch mal gelutscht werden. Wenn du das nächste Mal merkst - oder wir und dich darauf aufmerksam machen - dann steckst du mal den anderen Daumen in den Mund. Und am nächsten Tag ist der Zeigefinger der re Hand dran, und dann… etc. p.p.

Das ist viel eleganter und wäre auch kein Kampf. Und da noch so klein ist, wird er Ihnen die Geschichte auch abnehmen - er denkt noch magisch…

Was wird passieren? Die Handlung kommt wieder auf die bewusste Ebene und nun kann er erst entscheiden, ob er es tut. Er entscheidet ist (so es bei so einem jungen Kind klappen kann) dafür, einen anderen Finger zu nehmen. Hat dann aber keinen großen Lustgewinn, die Sache wird unattraktiv.

Zur Vorbereitung könnten sie erst (sofern Sie das nicht eh schon machen) so Finger-Abzählreime mit ihm machen.

Wegen der Wangenstreichelei (die mal evtl. zuvor separat angehen könnte) da scheint er ein taktiles Bedürfnis zu befriedigen. Wie wäre es da mit einem Super Kuscheltier, das sich an seine Wange schmiegt (Stichwort Linus von den Peanuts und seine Schmusedecke)?

Kann gut sein, dass er dieses gesteigerte (?) Bedürfnis nach körperlicher Zuwendung wegen des kleinen Schwesterchens entwickelt hat (z.B. wenn er Ihre Interaktionen mit der Kleinen beobachtet). Wenn er (oder die große Schwester) Hinweise geben, dass sie verunsichert sind, sprechen Sie mit ihnen darüber.

In meiner Praxis bewährt es sich, mit den Kindern darüber zu reden, dass Liebe nichts Materielles ist (wie Gummibärchen). Denn dann wäre es tatsächlich so, dass jedes Gummibärchen, das die Kleine bekommt, nicht von Dir gegessen werden kann… Aber Liebe kann man nicht anfassen, die wird nicht weniger, nur weil man nun noch jemanden lieb hat. Oder hast du deinen alten Freund Fritz weniger gern, weil du nun auch noch den Freund Franz hast? Aber es hat sich wirklich was verändert, seit die Kleine da ist. Ich habe jetzt nicht mehr ganz so viel Zeit für Dich, das stimmt. Aber weniger Zeit bedeutet nicht (wie Kinderlogik oft so ist) weniger Liebe.

Last not least möchte ich Sie noch auf zwei Bücher aufmerksam machen, die Ihnen auch helfen könnten. „Babyjahre“ bzw.„Kinderjahre“ von Remo Largo.

Viel Erfolg

S. Weiß

Vielen Dank für diese schnelle, ausführliche und sehr kompetente Antwort!!! Wir haben es gleich mal ausprobiert. Die Fingerreime findet er von jeher toll. Ich benutze sie meist beim Nägelschneiden, werde sie jetzt aber häufiger einbauen. Zum „Fremdlutschen“ lässt er sich (noch?) nicht überreden („Nein, das will ich nicht.“),obwohl ich die Finger flüstern hören habe. :wink: Und auch ein Kuscheltier scheint kein adäquater Ersatz für’s Streicheln zu sein. Ihre Erklärungen haben mir aber die Gründe für seine Handlungsweise verständlicher gemacht. Nochmals Danke.