Langsam beginne ich wieder im Kopf klar zu werden, den Schock zu verdauen. Dennoch (daher auch der Titel) sind die Bilder des WTC immer noch für mich etwas so wie in einem Kinofilm, aber auch das beginn ich langsam als Realität zu akzeptieren.
Aber wie geht es weiter? Ich lege mich jetzt mal fest und zeige wie ich mir die weitere Entwicklung in den nächsten Wochen und Monaten vorstelle (wird ein wenig länger).
Zuerst: ich muß natürlich davon ausgehen, was bislang bekannt ist oder so gut wie bekannt ist. Dazu gehört:
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Der Auftraggeber war Bin Laden. Zumindest wird die USA dies behaupten und Beweise hierfür vorlegen. Ob die Beweise echt oder gefälscht sein werden (das traue ich den USA durchaus zu, denn die Geheimdienste haben so eklatant versagt, die können sich eine vielleicht sogar jahrelange Untersuchung nicht leisten), weiß ich nicht. Aber es ist egal, weil, wenn gefälscht, dies wohl so gut gemacht werden wird, dass das die allermeisten glauben werden. Aber vielleicht ist eine Fälschung ja auch gar nicht nötig.
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Bin Laden hat ein großes Terrornetz weltweit unter sich. Auch wenn die USA dies größer darstellen wird als es ist (wie die Truppen von Milosevic und Hussein, weil ein Sieg glanzvoller ist, je größer der Feind vorher erschien), ist das kaum nötig. An diesem Anschlag waren vielleicht 50 Leute beteiligt und Bin Laden konnte sich ausrechnen, dass, wenn er den Kampf eröffnet, er länger dauern wird. Also wird er kaum den Großteil oder gar die Gesamtheit seiner Truppen im ersten Zug verpulvert haben. Außerdem ist nichts erfolgreicher als der Erfolg. Diese Schmach Amerikas gilt bei vielen islamischen Fundamentalisten als Sieg. Die Anhängerschaft und damit auch die Gefolgschaft bis in den Tod Bin Ladens dürfte in den letzten Tagen wohl sprunghaft angestiegen sein. Also gehe ich davon aus, dass Bin Laden über ausreichend Menschen verfügen kann, die er rekrutieren kann.
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Die USA setzen Bin Laden und Taliban gleich. Sie werden nicht erst nach Beweisen suchen, ob die Taliban von Bin Ladens Aktivitäten wußten. Davon werden sie einfach mal ausgehen. Ich denke das kann man auch, wenn Bin Laden es wirklich war.
Also wie geht es weiter:
Der Schritt der USA ist klar. Sie werden Pakistan als Stützpunkt nehmen. Pakistan hat dies nolens volens auch akzeptiert. Vielleicht schaffen es die USA sogar von einer oder mehreren der zentralasiatischen Republiken (Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan) zu kommen, um die Taliban in einen Mehrfrontenkrieg zu bringen, glaube ich aber eher nicht. Auf jeden Fall wird sich die USA mit der Nordallianz verbünden, um eine Nach-Taliban Regierung zu haben und Personen für die erste Reihe. Denn auch wenn die USA mit Bodentruppen kommen, wovon beim jetzigen Rekrutierungsgrad sowie der gegenwärtigen Kriegsrethorik auszugehen ist, brauchen sie Menschen für die erste Reihe. Und das können keine US-Boys sein. Die sind zu wertvoll und Bush kann nicht tausende von toten Amerikanern riskieren. Wahrscheinlich wird die US-Army für die Luftwaffe und die US-Bodentruppe für den Nachschub und die Nordallianz für den Vormarsch zuständig sein.
Die Armee wird eventuell eine multilaterale sein. Wenn, dann aber auch eindeutig dominiert von der NATO, aber eben möglichst auch andere Länder damit es besser aussieht. Aber nur als Alibi. Deutschland wird sicherlich nicht gezwungen werden in Afghanistan zu kämpfen. Deutschland wird nur für den amerikanischen Nachschub aus Europa gebraucht. Andere arabische Länder wird er kaum bewegen können, da mitzumachen. Also eher USA allein, mit Unterstützung der Rest-NATO und Pakistan (etc. eventuell) als Art „Flugzeugträger“.
Ziel: Nordallianz an die Macht. Vielleicht bekommen sie Bin Laden und die Taliban-Führer nicht gleich, aber das ist eh unmöglich bei dem Territorium dort. Aber wenn die Regierung hinter der USA steht, hoffen sie früher oder später auf eine Auslieferung ähnlich wie in Serbien.
Soweit die USA. Irgendjemand sprach hier mal von einem Schachspiel, Bin Laden habe eröffnet, dann sind die USA am Zug. Jetzt wäre also wieder Bin Laden dran. Einerseits ein gutes Bild, andererseits nicht. Denn Bin Laden kann jetzt (im Gegensatz zu Schach) mehrere Züge auf einmal machen.
Überrascht wird Bin Laden von der Situation nicht sein. Er hat wohl jahrelang den Anschlag vorbereitet: kühl kalkuliert, mit viel Intelligenz und Phantasie. Er hatte genug Zeit, darüber nachzudenken, wie es dann weitergeht. Und er hat wohl auch genug Intelligenz und Phantasie um sich die jetztige Situation vorher ausgemalt zu haben. Und eben auch genug Vorbereitungszeit, um für diese Situation gewappnet zu sein. Allenfalls die zentralasiatischen Stützpunkte für die USA könnte ihn überraschen, wenn es dazu kommt. Aber das dürfte ihm relativ egal sein. Denn die USA werden den Krieg in Afghanistan führen, Bin Laden nicht.
Was wird also Bin Laden machen? Er muß etwas tun, was sich die Amerikaner auch ausrechnen können, denn da sitzen ja auch keine Dummköpfe. Da sind auch Leute, die weiter als bis zum nächsten Zug denken können. Gegen das die Amerikaner aber nichts tun können, selbst wenn sie damit gerechnet haben.
Terror in die USA bringen? Wohl kaum. Die USA sind dort, wo er sie haben will. Mehr Terror in Amerika bringt ihn nur ein noch wütenderes und entschlosseneres Amerika. Nein, Bin Laden will den Krieg gewinnen. Er gewinnt ihn aber nicht in Afghanistan und auch nicht in den USA.
Seine Terrorziele werden sein (der Bedeutung nach):
- Pakistan. Er muß dafür sorgen, dass die Pakistaner die Amerikaner wieder rausschmeissen. Pakistan ist eines der drei Länder (neben Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate), das die Taliban-Regierung akzeptiert hat. In Pakistan sind die Taliban entstanden, in Pakistan gibt es immer noch Ausbildungszentren für neue Taliban-Kader. Eine pakistanische Partei, die die Geburtshelferin der Taliban war, brachte vor kurzem noch eine halbe Million Menschen auf die Straße. Also Anhänger gibt es dort genug. Natürlich sind auch dort Angriffe auf Stützpunkte der Amerikaner möglich. Der Boden muß den Amerikanern schlicht zu heiß werden. Auch aus Somalia sind die Amerikaner geflohen, als es ihn dort zu heiß wurde. Das hat Bin Laden nicht vergessen, damals war er in Somalia. Oder aus Beirut.
- Indien. Wenn der Kaschmir-Konflikt auflebt und eskaliert, weil pakistanische Terroreinheiten dort angreifen (können ja ruhig Taliban sein, müssen keine offiziellen pakistanischen sein) oder der Terror ins indische Herzland getragen wird, muß Indien eingreifen und urplötzlich sitzen die USA in einer brenzligen Situation. Es wird sicher zu keinem US-Indien Krieg kommen, da werden schon beide aufpassen. Aber wenn die Inder sich gezwungen sehen, von Osten zu kommen, könnte es den Amerikanern schnell in Westpakistan äußerst mulmig werden.
- Westeuropa. Denn auch hier muß möglichst viel Druck auf die USA gemacht werden, den Konflikt möglichst schnell zu beenden.
Möglich, dass die Nordallianz Afghanistan mit Hilfe der USA erobern wird, wenn alles optimal läuft für die USA, was ja wirklich nicht sicher ist. Aber eben auch möglich, dass dann bei der nächsten pakistanischen Wahl die Taliban-Partei in Pakistan gewinnen wird und die Führer einfach das Land wechseln.
Übrigens: Pakistan und Indien sind Atomwaffenstaaten.
Noch ein Wort zur Innenpolitik (falsches Forum, ich weiß): Im Kriegsfall steht das Volk immer hinter der aktuellen Regierung, vor allem aber hinter dem Kanzler. Schröder hat die nächste Wahl dann praktisch schon gewonnen (oder er müßte schon sehr viel falsch machen). Für die Grünen sehe ich zum ersten Mal große Schwierigkeiten (war mir bis vor einer Woche noch sicher, dass Rotgrün mindestens 8 oder 12 Jahre regieren wird, aber das war vor dieser Zeitenwende). Denn im Kriegsfall rückt das Volk eher nach rechts. Die Grünen haben nur noch einen Pfund (gerade im Kriegsfall): sie stellen den Außenminister. Ob das ausreicht, weiß ich nicht. Ich denke mal eher nicht, denn gerade im Kriegsfall wird diese Außenpolitik von Schröder abgedeckt werden. Es wird wohl entscheidend sein, wie sehr sich vor der Wahl Schröder für die Grünen aussprechen wird. Denn wie gesagt, den Kanzler wird das Volk im Kriegsfall wohl auf keinen Fall wechseln wollen.
