entschuldige, dass ich dir gehörig widersprechen muss:
wir haben in Deutschland keine funktionierende Demokratie! (in anderen europäischen Ländern kenne ich mich weniger aus, aber ich vermute, es sieht dort ähnlich aus, zum Teil schlimmer. Italien ist ein gutes Beispiel einer Demokratie- Karikatur: dort hat der Machthaber Berlusconi alle demokratischen Mittel ausgenützt, um diese Staatsform auszuhebeln, und er hat an ihre Stelle ein modernes Imperium gesetzt, geschickter und subtiler, als jemals in der Geschichte irgendwo.) Demokratie kann nicht bedeuten: ich wähle alle 4 Jahre eine Regierung, die nicht ausführt, was sie verspricht und die sich eine goldene Nase verdient an den Schulden, die sie uns und nachfolgenden Generationen aufbürdet, selbst aber keinerlei Verantwortung dafür übernimmt. Diese Narrenfreiheit erzeugt schlimmere Zustände als in einem Feudal-Staat möglich sind.
Demokratie heißt Mitbestimmung, Mitgestaltung und Mitverantwortung bei allem, was im Staat geschieht.
Zunächst einmal: Jeder Mensch hat vielleicht ein eigenes Verständnis von Demokratie. Das ist richtig. Denn der erste Schritt zur Demokratie ist, dass sich die Menschen damit gedanklich überhaupt befassen. Bei Wikipedia gibt es ja ausreichend Hinweise zu den verschiedenen Formen und zu praktizierten Demokratien. Damit will ich mich hier nicht aufhalten.
Die Frage für mich ist: wie muss eine zeitgemäße Staatsform aussehen, in der die Menschen sich auf Augenhöhe begegnen, Mitbestimmung und Mitverantwortung für alle Menschen möglich und auch verpflichtend sind– oder sagen wir besser zum selbstverständlichen Alltag gehören.
Und in diesem Sinne haben wir zwar in Deutschland bessere Verhältnisse als in den Zeiten vor der Entstehung der Bundesrepublik. Aber bis zu einem Staat, der wirklich das Volk (mit-)regieren lässt, in dem ausgewogene, sozial tragfähige Verhältnisse herrschen, ist es noch ein langer Weg.
Ich will einmal in Stichpunkten aufführen, an welchen Stellen es überall noch hakt. Und die Liste kann sicher noch ergänzt werden:
gleicher Verdienst für Frauen, gleiche Aufstiegschancen für Frauen, Bezahlung und Wertschätzung von Müttern und Hausfrauen, Beteiligung von Frauen in den Führungsriegen Respekt vor Jugendlichen und Kindern, Demokratie-Übungen in Familie, Schule und Ausbildung, dort angemessene Mitgestaltung, Mitbestimmung und Mitverantwortung Schutz von Minderheiten (z.B. auch bei Bauprojekten, bei denen Einzelne oder ganze Regionen überrollt und enteignet werden – oder die ältere Generation, die sich in der automatisierten Welt nicht mehr zurechtfindet – oder Menschen aus dem Ausland, die oft ohne Begründung abgeschoben werden – und anderes mehr)
Schutz vor der Macht der Konzerne (und der entsprechenden Politiker, die dort mitmischen - siehe Atomindustrie, Banken, Auto-Industrie, Bau-Industrie, Pharmabetriebe, Kliniken, Versorgungsbetriebe etc. etc.)
Die Liste wäre noch zu erweitern. Aber Demokratie besteht ja gerade nicht aus Vorkauen, sondern aus Selber-Nachdenken, Selber- Handeln.
Auf jeden Fall sehe ich in den Machtentwicklungen subtiler Art und in dem Rückgang des politischen Engagements der Menschen eine deutliche Verengung des Demokratischen in unserem Gesellschaftsprozess. Wir haben Meinungsfreiheit, wir haben Versammlungsfreiheit, wir haben keine politischen Gefangenen, wir haben faire (?) Gerichtsprozesse, wir hungern nicht.
Aber reicht das als Grundbedingung für eine Demokratie aus? Ich meine nicht.
Ägypten ist zur Zeit in einem mehr demokratischen Prozess als wir, weil die Menschen wach sind!
Ich füge noch einen Bericht zur Einschätzung der Lage dort an, weil das Thema Demokratie dort auch angesprochen ist:
Ägyptens Generäle haben das Parlament aufgelöst, sowie die
geltende Verfassung ausgesetzt. Eine Militärregierung soll
jetzt Mubaraks Aufgaben übernehmen. Aber was ist eine
Militärregierung überhaupt? Und kann sie wirklich die
Normalität wieder herstellen und das Land in die Demokratie
führen?
„Diktatur“, „Militärregierung“, „Kommunismus“, „Kapitalismus“, „Moslembrüder“, „Demokratie“, „Christen“…
das sind alles Worthülsen, Begriffe, die Vorstellungen in den Menschen auslösen, aus sich heraus aber kein Garant für irgendeine Richtung politischen Handelns sind, wenn die Menschen es nicht ausfüllen. Und wie sie es ausfüllen, das kann immer sehr unterschiedlich ausfallen. Und nicht zu jeder Zeit unserer Geschichte ist jede Art von Regierungsform denkbar, weil sich das Bewusstsein der Menschen sehr stark verändert.
Wenn wir heute auf das Alte Ägypten zurückschauen und unsere Maßstäbe auf die damalige Gesellschaftsform anwenden und sie daraus beurteilen, können wir ganz schön danebenliegen.
Auch wenn wir heute versuchen die Gesellschaftsformen in anderen Ländern zu beurteilen und zu entscheiden, was dort getan werden soll, ist das sehr riskant. Die Informationen alleine, die uns zugänglich sind, reichen ja selbst im eigenen Land kaum aus, in dem man die Zustände hautnah mitbekommt.
Natürlich gibt es ganz allgemein gültige Wertvorstellungen und Regeln für ein menschenwürdiges Zusammenleben. Und darin müssen wir auch alles tun, die Menschen in aller Welt zu unterstützen.
Aber sind wir in der Lage, die hohen Forderungen einer echten Demokratie zu exportieren, solange wir selber noch Anfänger darin sind und gerade zur Zeit weder das „Volk“ ausreichend geübt ist in demokratischen Umgangsformen noch der bestimmende Teil der Politiker und Wirtschaftsführer an einer solchen Entwicklung interessiert ist? Genauer besehen haben wir in Deutschland und in den europäischen und anderen Ländern, die sich demokratisch nennen, subtile Diktaturströmungen ganz unterschiedlicher Ausprägung, bestehend aus einer selbst für Fachleute schwer zu durchschauenden Mischung von massiven Eigen-Interessen, Machtzentren in Politik, Wirtschaft und den Medien - oft als Lobby-Gruppen bezeichnet, einem Konsumterror und einem fast unerschütterlichen Glauben an technische Machbarkeit und der Beherrschbarkeit des Planeten Erde.
In Schule und Familie werden kaum demokratische Prozesse geübt, obwohl Kinder und Jugendliche dazu gut in der Lage wären und aus ihrer Unverdorbenheit gerechter und fairer empfinden, denken und handeln als die meisten Erwachsenen, und auch bereit sind, Verantwortung zu übernehmen . Ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung beteiligt sich aktiv an politischen Prozessen. Und die Wenigsten sind bereit auch Verantwortung für die Folgen ihrer Entscheidung zu übernehmen (siehe Bürger-Entscheid für den Erhalt des Flughafens in Lübeck, dessen Finanzierung Mittel bindet, die der Stadt in wichtigen sozialen und kulturellen Bereichen fehlen, weil die Menschen Billigfliegen für wichtiger erachten als Kultur, Bildung oder Hilfen im sozialen Bereich – nur als ein Beispiel für viele Großprojekte, die zur Zeit auf Kosten aller Menschen aus einseitigen Interessen mit politischer Gewalt durchgesetzt werden).
Aber zurück zu Ägypten: Kaum jemand dürfte sich in der Lage sehen, die Lage dort nur auf Grund der Berichterstattung richtig einzuschätzen. Afghanistan und andere Brennpunkte sollten uns gelehrt haben, wie schmal der Grat zwischen wirklicher Hilfe und unangemessener Einmischung – und das auch noch mit Waffengewalt! – ist, und wie entscheidend eine Hilfe im humanitären Bereich ist, die sich auf die Gegebenheiten im Land einlässt, einen langen Atem hat und trotzdem unbeirrbar Menschenrechte in die Tat umsetzt ( siehe der Gegensatz zwischen militärischem Einsatz in Afghanistan und der Organisation „Kinderhilfe für Afghanistan“).
Es folgt aus solchen Erfahrungen auch für den Norden Afrikas: Jegliche humanitäre Hilfe und jegliche ideelle Unterstützung sind zu begrüßen. Jegliche Einmischung in das politische Geschäft ist zu unterlassen und hat – wie bisher – nur den Geruch an sich, kurzsichtige Eigeninteressen zu verfolgen.
Aus allen Berichten und den Einschätzungen von Kennern der Region, die mir in der letzten Zeit zugänglich waren, wage ich eine subjektive Einschätzung mit Vorbehalt:
Die Demonstranten haben eine große Entschlossenheit gezeigt, ein Durchhaltevermögen und eine für die Mißstände und ihre berechtigte Wut ungewöhnliche Friedfertigkeit und Bedachtsamkeit. Das Militär hat in seinen Einsätzen und den bisherigen Verhandlungen die Haltung gezeigt, die man sich wünschte: sie haben befriedet und die in die Schranken gewiesen, die unangemessen Gewalt angewendet haben – und das waren ja vor allem die organisierte Geheimpolizei und andere Präsidenten-Treue. Bisher sieht es ganz so aus, als ob die Führung des Militärs ihre Machtstellung nicht missbraucht. Es ist die einzige Institution, die von allen respektiert wird, vor allem auch das Vertrauen des Volkes genießt und in der Lage ist, für einen einigermaßen geordneten Wandel zu sozial tragfähigen Verhältnissen zu sorgen.
Auch aus der jüngeren Geschichte kennen wir fast ausnahmslos Beispiele, bei denen Militärführer ihre Macht nicht zum Wohle des Volkes eingesetzt haben, geputscht haben, um Diktaturen abzulösen aber nicht aufzulösen. Oft waren die Zustände nach der Machtübernahme durch das Militär schlimmer als vorher.
Nach allen bisherigen Zeichen können wir die Hoffnung haben, dass hier eine Region zu demokratischen Prozessen findet (die ja mit den Demonstrationen bereits begonnen haben, denn Demokratie wird nicht durch die Bequemlichkeit eines Zustandes, sondern sie bewährt sich nur in den angemessenen Formen ständiger Bewegung unterschiedlichster Haltungen zwischen Auseinandersetzung und Einigung). Und wir dürfen das aufmerksam beobachten und können jetzt schon eine Menge lernen.
Also: Was ist eine Militärregierung? Was ist diese Militärregierung? Was ist die Normalität, zu der es sich lohnt zurück zu kehren? Und: kann es in einer Demokratie eine zentrale Führung geben?
Wolfgang Debus, Lensahn OH debuswolfgang@arcor,de