Mitten in der Wüste von Colorado hat ein exzentrischer Milliardär eine gläserne Pyramide errichten lassen. Ein sandiger Weg, der noch nicht wie die Hauptroute von sonnengebleichten Tierskeletten gesäumt ist, führt von der staubigen Piste zu dem in der Wüstensonne glitzernden Bauwerk. Die Pyramide besteht aus gläsernen, gleichseitigen Dreiecken, die eine Schenkellänge von 20 Meter aufweisen. Die Pyramide fusst auf einer flachen, mit weissen Kieselsteinen gefüllten Betonwanne. Die Pyramide ist ansonsten leer. Betreten werden kann sie nur durch eine Glastür auf der Südseite. Die Glastür hat ein inwärtig liegendes Schloss und kann nur von innen abgeschlossen werden.
Die Errichtung der Pyramide blieb auf Grund der Abgelegenheit zunächst unbemerkt von der Öffentlichkeit. Als die Glaspyramide schliesslich allgemein bekannt wurde und in der örtlichen Presse auftauchte, hub allgemeines Rätseln über Sinn und Zweck des Bauwerks an. Doch der Initiator und Eigentümer der Pyramide, ein Unternehmer und Kunstmäzen, schwieg sich aus. In der Not interpretierte man das Bauwerk naheliegenderweise als künstlerisches Projekt eines geltungssüchtigen Milliardärs. Die meisten gaben sich mit dieser Erklärung dann auch zufrieden.
Der wahre Zweck der Glaspyramide wurde schlagartig ersichtlich, als eines Tages der Milliardär tot in seinem Bauwerk aufgefunden wurde. Er baumelte mit dem Kopf in der Schlinge an einem goldfarbenen Seil, welches an einem in die Spitze der Pyramide eingelassenen Haken befestigt wurde. Zuvor, bei der öffentlichen Begehung der Pryamide durch die Presse, war dieser Haken zwar schon aufgefallen, und ein Redakteur eines Lokalblättchens hatte nach dem Zweck des Hakens gefragt. Doch blieb eine eindeutige Antwort aus. Nun, als die Pressevertreter ein zweites Mal die Pyramide erreichten, standen sie stumm vor dem glitzernden Glasbau. Zusammen mit einem Detective, einem Sherrif und mehreren Polizisten starrten sie in der brütenden Hitze der Colorado-Sonne in die Pyramide und weideten sich an dem grotesken Bild: Ein Mann inmitten der Wüste, aber korrekt gekleidet mit Anzug und Schlips, tot an einem goldfarbenen Seil in einer gläsernen Pyramide hängend. Unter seinen Füssen auf dem weissen Kies ein goldener Schlüssel – offensichtlich der Türschlüssel.
Der Sheriff und der Detective hatten schon mehrere Male die Pyramide umschritten. „Verdammt noch mal, verschwindet!“, herrschte der Sheriff zwei Journalisten an, die den beiden hinterherschlichen in der Hoffnung, ein paar Gesprächsfetzen zu erhaschen. Widerwillig trollten sich die Journalisten davon, nicht ohne auf die Freiheit der Presse in einem freien Land hinzuweisen. „Ihr könnt mich mal“ murmelte der Sternträger vor sich hin. „Wie kann das sein“, keuchte der übergewichtige Gesetzeshüter in Richtung des Detective und wischte sich mit einem schmutzigen Taschentuch den Schweiss von der Stirn. „Hinein in die Pyramide kommt man nur durch diese Glastür. Aber die ist von innen verschlossen! Und das Schloss ist von aussen nicht zugänglich. Die Tür ist solide und absolut unbeschädigt, wie Sie sehen. Nicht mal ein Kratzer“. Fast ehrfürchtig strich der Sheriff über den blinkenden Edelstahlrahmen, in dem die Glastür eingelassen war. „Wie hat der Kerl von innen abschliessen und sich dann in dieser Höhe aufhängen können?“. Tatsächlich hing der Millionär recht hoch mit dem Kopf in der Schlinge; die Länge des Seils von seinem Scheitel bis zur Pyramidenspitze schätzten die beiden Betrachter auf eine Länge von 7 Metern. „Der hängt mit den Füssen locker 10 Meter über dem Boden. Wie ist der ohne jedes Hilfsmittel da nur hoch gekommen? „Vielleicht war es gar kein Selbstmord“, sinnierte der Detective laut vor sich hin. „Ach ja? Und wer hat die Glastür anschliessend von innen abgeschlossen und den Schlüssel zu seinen Füssen gelegt? Der Tote selbst nach seiner Ermordung?“, entgegnete der Sheriff leicht höhnisch.
Der Detective gab keine Antwort, sondern schritt bereits aufmerksam die versandete Stichstrasse ab, die zur Glastür hinführte. „Hier sind Spuren eines Trucks, und die scheinen noch recht frisch zu sein“, rief er dem Sheriff zu. Der Dicke setzte sich in Bewegung und trabte schnaufend an. „Schauen Sie, Sheriff: Der Truck hat am Anfang der Stichstrasse offensichtlich gewendet und ist dann rückwärts bis kurz vor die Glastür gefahren. Die Reifenspuren des Wendemanövers sind noch deutlich zu sehen“. Der Sheriff blähte die die Backen auf und rückte ungeduldig seinen Stetson zurecht. „Ja, und, was bedeutet das denn nun?“, wandte er sich fast schon flehentlich an den Detective. „Das bedeutet, dass hier etwas auf- oder abgeladen wurde“, antwortete sein Gesprächspartner lakonisch. „Ich sehe aber nichts, was hier hätte an- oder abgeliefert werden können – ausser vielleicht Sand“.
Resignierend liess sich der Sheriff in den Wüstensand plumpsen. Wie ein Kind liess er Sand durch die Hand rieseln. Der Detective schaute ihm sinnierend zu, blinzelte in die Sonne, kauerte sich dann zu dem Dicken hinzu. Minuten verstrichen. Plötzlich platzte es aus dem Detective heraus: „Natürlich, das ist es!“ Der Sheriff plumste vor Schreck hintenüber und schaute ungläubig. „Stehen Sie auf, Sheriff. Sie haben Glück - ich habe heute meinen guten Tag. Der Fall ist absurd, wurde raffiniert eingefädelt und hervorragend inszeniert. Es sollte wohl eine auf ewige Zeiten mysteriöse Geschichte bleiben. Und das wäre ja auch fast gelungen. Aber eben nur fast.“