Hi!
Eine Geschichte aus dem realen Leben (von meiner besseren Hälfte jeden Tag direkt miterlebt):
Die Wirtschaft geht am Stock, alle müssen sparen. Manche sparen so sehr und operieren derart daneben, dass sie gar nicht merken, wie das Unternehmen vor die Hunde geht.
Den Betrieb gibt es nun seit 40 Jahren (den wahren Namen nenne ich nicht, damit es keine rechtlichen Probleme gibt). Aus einem mittelständischen Unternehmen ist im Laufe der Zeit ein weltweit agierender Konzern geworden. Die Belegschaft war stolz auf ihr Unternehmen, die Geschäftsleitung legte großen Wert auf die Feststellung, dass die Mitarbeiter das wichtigste Kapital des Betriebes waren - und lebte auch danach. Bei Untersuchungen wurde das Unternehmen immer wieder unter die Top Ten der „Traum-Arbeitgeber Deutschlands“ gewählt. Bei den Azubi-Stellen gab es auf eine Stelle 150 bis 200 Bewerber - in den guten Zeiten!. Wer hier eine Berufsausbildung machte, wurde wirklich gefördert, und nahezu jedes Jahr stellte der Betrieb den Bundessieger der ganzen Branche. Und natürlich gab es eine Übernahmegarantie für jeden Azubi.
Vor etwa zehn Jahren wurde aus der GmbH & Co KG, deren Anteile sich auf etwa drei Dutzend Eigner verteilten, eine AG (nicht börsennotiert). Durch Fusionen, Kaufangebote und Druck von außen verkauften viele Eigner ihre Anteile am Unternehmen, und es bildete sich eine Dreier-Gruppe heraus, die nun das Unternehmen kontrollierte.
Niemand ahnte, was kommen sollte.
Nach und nach schieden jene Führungskräfte aus dem Unternehmen aus, die das Kerngeschäft noch von der Pike auf gelernt hatten. Der Ersatz kam aus anderen Unternehmen, meist studierte Betriebswirte, später Volkswirte oder Wirtschaftswissenschaftler. Und prompt änderte sich der Führungsstil. Es ging nicht mehr um die Gemeinsamkeit, die „große Familie“. Das Zauberwort hieß „Outsourcing“. Das Unternehmen mit seinen etwa 6.000 Mitarbeitern wurde in verschiedene Betriebsteile zerschlagen. Die Folge war eine Explosion der Kosten, weil jetzt jeder Betriebsteil sein eigenes Süppchen kochte. Nach nur zwei Jahren - und dem Austausch der halben Führungsetage - wurde aus dem „Outsourcing“ ein „Insourcing“. Zurück zu Muttern. Dafür gab es dann aber ein anderes Schlagwort, nach dem die neue Geschäftsleitung operierte: Diversifikation.
Es wurde einfach alles gekauft, was den Chefs irgendwie unter die Finger geriet. Und plötzlich hatte man hochdefzitäre Unternehmensteile am Hals, die irgendwo in Europa ihre Geschäfte machten - oder besser: nicht machten. Wieder brachen alle Dämme, wieder wurde die Führungsriege ausgetauscht (ich vergaß zu erwähnen, dass jedes Mal dicke Abfindungen gezahlt wurden), jede Menge dazugekaufter Betriebe wurden mit Verlust abgestoßen. Die neuen Chefs gaben das Schlagwort „Kernkompetenz“ aus. Zurück zum eigentlichen Geschäft. Nur waren inzwischen viele, die diese Kernkompetenz besaßen, nicht mehr im Unternehmen. Um diesen Problemen zu begegnen, wurde wieder Outsourcing betrieben (wenn auch im geringeren Umfang als beim ersten Mal).
Dann kam die große Stunde der drei Anteilseigner. Zwei von ihnen fusionierten, der dritte mußte seinen Anteil aus kartellrechtlichen Gründen bei einer Bank zwischenparken. Von wo aus es von dem neuen großen Anteilseigner übernommen wurde.
Und mit dem neuen Riesen im Hintergrund begann der „Shareholder Value“. Die erwirtschafteten Gewinne waren dem neuen Eigentümer zu klein. Ein Nettoertrag von zwei bis zweieinhalb Prozent vom Jahresumsatz waren nicht „state-of-the-art“. So griff der neue Riese direkt in die Unternehmensstruktur ein, teilte, fügte zusammen, gruppierte, kaufte hinzu, entfernte, verschmolz, benannte um. Bis niemand von der Belegschaft sich noch irgendwie mit dem Unternehmen indentifizieren konnte. Gehörte man jetzt zum Teilunternehmen A oder zur übergeordneten Holding B oder zur Tochter C oder war man doch noch eine große Familie? Nein, zur großen Familie gehörte man auf keinen Fall, denn jedes Unternehmensteil hatte mittlerweile seine eigene Geschäftsleitung, seinen eigenen Betriebsrat, seine eigenen Sozialleistungen, seine eigenen Gehaltsstrukturen.
Personal wurde hin und her geschoben, Unternehmensteile verkauft, die Arbeitnehmer wiederholt vor eine „Friss oder stirb“-Situation gestellt. Das Arbeitsklima wurde frostig, die inneren Kündigungen nahmen drastisch zu, Mobbing wurde Alltag, und jeder, dem ein Angebot zum Vorruhestand gemacht wurde, nahm dies sofort an. In einigen Abteilungen war die Situation so ernst, dass Leute kurzfristig die Stelle wechselten, selbst unter Einbuße von mehreren hundert Euro Gehalt pro Monat.
Nun ist die Situation so weit verschärft, dass von jedem Personalverantwortlichen Kosteneinsparungen verlangt werden - egal wie utopisch sie auch sein mögen. Eine Untersuchung der Gardner Group hat allein im Unternehmensbereich des Rechenzentrums inklusive der direkt angebundenen Abteilungen eine Situation festgestellt, dass sich das Unternehmen dort mittlerweile „gefährlich krankgeschrumpft hat“. Trotzdem werden dort weitere Maßnahmen zur Reduzierung der Personalkosten geführt. Erstmals seit 40 Jahren ist die Verfügbarkeit und Qualität des Rechnerverbundes deutlich gesunken.
Anderersorts sieht es nicht viel besser aus: Sozialleistungen werden zunehmend abgebaut. Das 13.Monatsgehalt steht zur Streichung an, das Urlaubsgeld ist hinfällig, eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Unternehmensgewinn - die seit 40 Jahren noch nie ausgefallen ist - gibt es nicht mehr. Gehaltssteigerungen außerhalb der Tariferhöhungen (seit mehreren Jahren stets unter dem Inflationsbetrag) sind tabu. Fördermaßnahmen wie berufliche Qualifikation werden nicht mehr genehmigt. Erstmals seit 40 Jahren wird kein Azubi übernommen. Statt dessen wurde ein neues Tochterunternehmen mit Leiharbeitern für den eigenen Konzern gegründet. Dass die Gehälter dort deutlich unter Tarif liegen, versteht sich von selbst. Und natürlich wurden alle Aktivitäten in Richtung Vorruhestand gestoppt. Niemand will mehr zahlen, um Leute loszuwerden. Neueinstellungen werden, wenn überhaupt, nur noch auf wenige Monate befristet.
Die Jahrestantiemen der unteren und mittleren Führungsebene sind jetzt an die Einsparungsbeträge bei den Personalkosten gekoppelt. Das führt z.B. dazu, daß Mitglieder des Betriebsrates von ihren Chefs abgehalten werden, an BR-Sitzungen teilzunehmen. Weil ein BR-Mitlgied mit 25% Ausfallzeit für die Abteilung kalkuliert ist und eine höhere Ausfallzeit nicht der Kostenstelle BR, sondern der personalverantwortlichen Kostenstelle berechnet wird (und damit die Einsparungen gefährdet). Wie schizophren die Situation wirklich geworden ist, zeigt die Verabschiedung zweier Mitarbeiter in den (regulären) Ruhestand. Da geht ein Mitarbeiter eines vor wenigen Jahren hinzugekauften Unternehmensteils nach über 30 Jahren in Rente. Die Kosten für dessen Abschiedsfeier hat die Firma übernommen. In einer anderen Abteilung wurde ebenfalls ein Mitarbeiter verabschiedet, nach sagenhaften 40 Jahren Betriebszugehörigkeit, in der eigentlichen Kernfirma. Hier hat das Unternehmen keinen einzigen Cent zu den Kosten für die Abschiedsfeier begetragen. Es muss gespart werden.
Die Stimmung der Belegschaft ist auf dem Nullpunkt. Das Unternehmen ist längst aus der Liste der deutschen Traum-Arbeitgeber verschwunden. Gerade hat sich der Vorstand eine Verdoppelung der Jahresbezüge gewährt und für das gesamte mittlere und höhere Management neue Dienstwagen geordert. In der EDV verursachen 100 externe Mitarbeiter so hohe Kosten wie sämtliche 450 interne Mitarbeiter zusammen. Trotzdem wird kein Externer abgebaut. Denn jeder Externe, der geht, bedeutet einen Macht- und Einflussverlust des jeweiligen Abteilungsleiters. Revierkämpfe jeder gegen jeden. Und die übergeordnete Ebene meidet Konfliktlösung, wo sie nur kann.
Deses Jahr wird das Unternehmen, inzwischen auf dem Kurszettel der Deutschen Börse präsent, seinen Aktionären fette Erträge in Form von Dividenden zahlen. Das nennt man eben „shareholder value“.
Es mag sein, dass manches Problem auf äußere Einflüssezurückzuführen ist, und dass der vermeintliche Zwang der Globalisierung die eine oder andere Entscheidung notwendig machte. Aber das zerschlagene Porzellan wird in dem Unternehmen noch sehr, sehr viele Probleme bereiten. Frust sei Dank!
Wie gesagt: Die Wirklichkeit in einem deutschen Unternehmen.
Grüße
Heinrich