Deutschland - Der lange Weg nach Westen

Guten Tag!

Im Zusammenhang der Teilnahme Merkels an den Gendenkfeiern des französischen Sieges über Deutschland im 1. Weltkrieg spricht Lorenz Jäger in der FAZ hiervon:

Diese Nachricht erzeugt ein leises Schaudern. Ist die Mimikry der Bundesrepublik auf ihrem „langen Weg nach Westen“ nun so weit gediehen, dass man sich in einer erinnerungspolitischen Gymnastik als der Besiegte den Siegern zugesellen will?

http://www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A18…

Meine Frage bezieht sich nur auf den Begriff des historischen „Weg[s] nach Westen“, der ja auch schon vor 1945 bzw. vor 1933 diskutiert wurde. Besonders um den Begriffsgebrauch in der Weimarer Republik gehts mir.

Was meint/e dieser geopolitische Begriff „Westen“ denn überhaupt? USA, Frankreich, Liberalismus, Kapitalismus, Parteiendemokratie? Fortschritt? Zentralismus?

Und noch unklarer für mich: was war/ist der Gegenbegriff dazu? Osten? Sozialismus? oder Deutschtum? Vielstaaterei? Anti-Egalitarismus?

Ich weiß, dass dies eine sehr unspezifische, ja fast naive, Frage ist. Ich ersuche daher nur ein paar Anregungen.

E.T.

Hallo E. T.,

http://de.wikipedia.org/wiki/Der_lange_Weg_nach_Westen

Was meint

Zunächst Frankreich und dann auch seine Verbündeten, das waren dann bald mal auch GB & die USA.

Distanz dazu ist Identitätssuche, evtl. ein Postulat an Frau Merkel.

Gruss
Mike

Meine Frage bezieht sich nur auf den Begriff des historischen
„Weg[s] nach Westen“, der ja auch schon vor 1945 bzw. vor 1933
diskutiert wurde. Besonders um den Begriffsgebrauch in der
Weimarer Republik gehts mir.

Was meint/e dieser geopolitische Begriff „Westen“ denn
überhaupt? USA, Frankreich, Liberalismus, Kapitalismus,
Parteiendemokratie? Fortschritt? Zentralismus?

In der Weimarer Zeit von den genannten Begriffen wohl am ehesten „Parteiendemokratie“, wobei die ja in weiten Schichten der Bevölkerung nicht so recht Wurzeln fasste. Ich glaube daher, es steckte noch etwas anderes dahinter. Man hatte aufgrund des um ein Haar ganz anders verlaufenen 1. Weltkriegs ein feines Gespür dafür, einer Anlehnung an die Westmächte im Grunde nicht zu bedürfen, sondern allenfalls eines Stillhaltens derselben für ein ganz anderes Projekt. Fortschritt und Kapitalismus hatte man weiß Gott zur Genüge selbst. Zentralismus war bis 1871 und eigentlich bis Hitler nie auch nur ein Thema in Deutschland und sicher auch nie ein politischer Wille der Mehrheit.

Und noch unklarer für mich: was war/ist der Gegenbegriff dazu?
Osten? Sozialismus? oder Deutschtum? Vielstaaterei?
Anti-Egalitarismus?

Der Gegenentwurf dazu war am ehesten „Osten“. Auch in Bezug darauf war den Deutschen durchaus klar, dass sie zwar letztlich den Krieg im Westen verloren hatten, nachdem die USA für das besiegte Russland in die Bresche gesprungen waren. Aber den Krieg im Osten gegen dieses Russland hatten sie gewonnen, und das mir nicht einmal der Hälfte ihrer Armee. Hier schien der natürliche Schwerpunkt künftiger Expansion zu liegen, unterfüttert von dem Umstand, dass man sowohl mit Polen eine Rechnung offen zu haben glaubte als auch Russland jetzt der kommunistische Hort des Bösen war und jeder Krieg ein heiliger Krieg zur Rettung Europas sein konnte.

Vermutlich waren solche (als zivilisatorisches Sendungsbewusstsein) verbrämten hegemonialen Gedankengänge im vordemokratischen Nord- und Ostdeutschland schon historisch („Ostlandreiter“) weiter verbreitet als im kleinstaaterischen West- und Süddeutschland, die eher auf den Ausgleich mit Frankreich warteten, nachdem sie in praktisch allen vorangegangenen Kriegen zum Schlachtfeld geworden waren, und an Siedlungstätigkeit im gewaltsam erweiterten Osten dagegen weniger interessiert waren. Der Südi Hitler schlug da mit seinem Lebensraum-Konzept aus der Art.

Ich weiß, dass dies eine sehr unspezifische, ja fast naive,
Frage ist. Ich ersuche daher nur ein paar Anregungen.

Als Anregung ist es auch nur gemeint.

smalbop

Und noch unklarer für mich: was war/ist der Gegenbegriff dazu?
Osten? Sozialismus? oder Deutschtum? Vielstaaterei?
Anti-Egalitarismus?

Der Gegenentwurf dazu war am ehesten „Osten“. Auch in Bezug
darauf war den Deutschen durchaus klar, dass sie zwar
letztlich den Krieg im Westen verloren hatten, nachdem die USA
für das besiegte Russland in die Bresche gesprungen waren.
Aber den Krieg im Osten gegen dieses Russland hatten sie
gewonnen, und das mir nicht einmal der Hälfte ihrer Armee.
Hier schien der natürliche Schwerpunkt künftiger Expansion zu
liegen, unterfüttert von dem Umstand, dass man sowohl mit
Polen eine Rechnung offen zu haben glaubte als auch Russland
jetzt der kommunistische Hort des Bösen war und jeder Krieg
ein heiliger Krieg zur Rettung Europas sein konnte.

Erst mal herzlichen Dank für deine Anregungen (bei dieser Gelegenheit auch an Dahinden für dessen Link).

Hmm, ich denke, dass -gerade was die Weimarer Zeit anbelangt- bei dieser West/Ost-Rhetorik (mir ging es ja gerade um die Ebene des Begrifflichen und Rhetorischen, weniger um die der institutionellen Einbindung, die das von Dahinden verlinkte Buch offensichtlich anspricht) der „Osten“ nicht nur ein zu eroberndes Gebiet meint, sondern auch einen (idealisierten) Ort der Identifikation und des „deutschen Wesens“.
(Leicht ersichtlich ist das zum Beispiel in den Schriften Arthur Moeller van den Brucks, für den der sowjetische Sozialismus einfach der geringere Feind war als der amerikanische Liberalismus bzw. dem Deutschen auch viel näher stand. Aber erkennbar durchaus auch bei anderen konservativen und nationalistischen Autoren. Um die Gruppe ging es mir, denn dass die Linken sich nach Moskau wandten, versteht sich von selbst.)

Vermutlich waren solche (als zivilisatorisches
Sendungsbewusstsein) verbrämten hegemonialen Gedankengänge im
vordemokratischen Nord- und Ostdeutschland schon historisch
(„Ostlandreiter“) weiter verbreitet als im kleinstaaterischen
West- und Süddeutschland

Das leuchtet mir ein.

E.T.

Hallo Ernst,

was westwärts gerichtete Bewegungen betrifft, so kann ich dir dieses noch ans Herz legen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Translatio_imperii#Tran…

Grüße
Sarah

Hallo

Hmm, ich denke, dass -gerade was die Weimarer Zeit anbelangt-
bei dieser West/Ost-Rhetorik (mir ging es ja gerade um die
Ebene des Begrifflichen und Rhetorischen, weniger um die der
institutionellen Einbindung, die das von Dahinden verlinkte
Buch offensichtlich anspricht) der „Osten“ nicht nur ein zu
eroberndes Gebiet meint, sondern auch einen (idealisierten)
Ort der Identifikation und des „deutschen Wesens“.
(Leicht ersichtlich ist das zum Beispiel in den Schriften
Arthur Moeller van den Brucks, für den der sowjetische
Sozialismus einfach der geringere Feind war als der
amerikanische Liberalismus bzw. dem Deutschen auch viel näher
stand. Aber erkennbar durchaus auch bei anderen konservativen
und nationalistischen Autoren. Um die Gruppe ging es mir, denn
dass die Linken sich nach Moskau wandten, versteht sich von
selbst.)

Ich erinnere mich (ungefähr) an ein Zitat aus der Zeit kurz vor oder nach dem 1. Weltkrieg, wiedergegeben in irgendeinem der Bücher der Kempowski-Familienchronik, das diese Ambivalenz etwas zum Ausdruck bringt und zugleich nationalistisch überhöht:

„Der Westen: Form, aber keine Seele.
Der Osten: Seele, aber keine Form.
Beides, Form und Seele, haben nur wir Deutschen.“

Gruß
smalbop

Für konservative bis reaktionäre Denker stand der ‚Westen‘ spätestens seit 1914 für die von ihnen negativ besetzten Begriffe Liberalismus, parlamentarische Demokratie, Individualismus, kapitalistischer Krämergeist, Urbanität und Modernismus. Frankreich war ohnehin der Erzfeind gewesen, aber dass auch das ‚germanische‘ und protestantische England Deutschland 1914 den Krieg erklärte, brachte die deutsche Geisteselite besonders in Harnisch (‚Gott strafe England‘).
Ernst Troeltsch propagierte die deutschen ‚Ideen von 1914‘ (Volksgemeinschaft, heroischer Idealismus) gegen die Ideale der Französischen Revolution von 1789, Werner Sombart veröffentlichte 1915 ein Buch mit dem bezeichnenden Titel ‚Händler und Helden‘, und Thomas Mann machte in seinen ‚Betrachtungen eines Unpolitischen‘ von 1918 auch noch einmal den Gegensatz von ‚oberflächlicher‘ westlicher Zivilisation und ‚tiefer‘ deutscher Kultur auf.
Bereits im Kaiserreich waren solche antiliberalen Ideen etwa durch das enorm erfolgreiche Buch ‚Rembrandt als Erzieher‘ von Julius Langbehn popularisiert worden. In der Weimarer Republik knüpften daran vor allem die Autoren im Umkreis der Konservativen Revolution an, von denen sicher Oswald Spengler der wirkmächtigste war. Arthur Moeller van den Bruck ist ja bereits genannt worden. Der war nicht zufällig der Herausgeber der Werke Dostojewskijs in Deutschland.
In den 20er Jahren breitete sich zum Grauen der konservativen Kulturpessimisten zudem auch noch die amerikanische Populärkultur mit Unterhaltungskino und Jazzmusik in Deutschland aus. So kam es, dass einige von ihnen das bolschewistische Experiment in Russland mit einer gewissen Faszination betrachteten. Die marxistische und internationalistische Phraseologie der Sowjets lehnten sie natürlich scharf ab, aber dahinter, glaubten sie, verberge sich eigentlich eine nationale Diktatur, wie sie sie unter anderen ideologischen Vorzeichen auch in Deutschland anstrebten.

Sorry, ist länger geworden, als ich geplant hatte.

Michael

Links:
http://de.wikipedia.org/wiki/Konservative_Revolution
http://de.wikipedia.org/wiki/Ideen_von_1914

Sorry, ist länger geworden, als ich geplant hatte.

Herzlichen Dank für diese vielen Anregungen,

E.T.

‚Mitteleuropa‘
Hallo Ernst,

all das Richtige der bisherigen Antworten lässt sich im Begriff Mitteleuropa zusammenfassen. Damit war durchaus nicht die rein geographische Betrachtung gemeint. Und es war in der Tat die Mittelstellung zwischen Ost und West, in der man sich sah.

Stichwörter für Deine weitere Suche wären demnach:

Mitteleuropa
Geopolitik (Hausdorfer!)
Schaukelpolitik/Rapallo

Viele Grüße,
Andreas