Die Demokratie war eine schwere Prüfung für alle“

17.08.2001 14:11

SZ-Interview mit Michail Gorbatschow

„Zehn Jahre nach dem Putsch in Moskau spricht der einstige sowjetische Präsident über die Ursachen seines Scheiterns.
Von Tomas Avenarius

Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow machte gerade Urlaub auf der Krim, als am 19. August 1991 ein „Notstandskomitee“ gegen seine Reformpolitik putsche. Der Umsturz scheiterte, in seiner Folge jedoch zerbrach die Sowjetunion. Mit Gorbatschow sprach Tomas Avenarius in Moskau über Fehler von damals und die russische Politik von heute.

SZ: Bis heute zitieren sie bei jeder Gelegenheit Lenin. Schätzen Sie den Gründer der UdSSR noch immer?

Gorbatschow: Ich zitiere viele Leute – und Lenin immer nur im Kontext. Aber Lenin ist die bedeutendste Figur der russischen, ja der Weltgeschichte. Er war der Führer der wichtigsten aller Revolutionen. Was passierte, nachdem die Bolschewisten an der Macht waren, ist eine ganz andere Sache.

SZ: Und der Sozialismus – bedeutet Ihnen der noch etwas?

Gorbatschow: Man hat schon so oft das Ende des Sozialismus verkündet und den Sieg des Liberalismus, gar das Ende der Geschichte. Und dann? Dann kam man immer wieder auf den Sozialismus zurück.

Wir alle brauchen die Werte des liberalen, demokratischen Sozialismus: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. In Westeuropa sind heute die meisten Regierungen sozialdemokratisch. Sie vertreten genau diese Werte.

SZ: Der Putsch vom 19. August 1991 hat die Welt überrascht. Für Sie als den Verantwortlichen der Reformpolitik kann der Aufstand der Konservativen nicht ganz unerwartet gekommen sein.

Gorbatschow: Doch. Ich war damals viel zu selbstsicher. Ich dachte mir, einen Weg zurück gibt es nicht. Welcher Verrückte würde einen solchen Schritt schon wagen: Der neue Unionsvertrag stand kurz vor der Unterzeichnung, ein Anti-Krisen-Programm lag auf dem Tisch, die Reform der Kommunistischen Partei war geplant.

Obwohl ich in den letzten Monaten des Jahres 1990 und in den ersten Monaten 1991 durchaus Tendenzen bemerkte, mich aus dem Amt drängen zu wollen. Die Reformfeinde hatten längst begriffen, dass ihre Zeit abläuft. Die Reformen gefährdeten ihre Posten und Privilegien. Also haben sie geputscht.

In diesem Sinne behielt ich eben doch Recht – der Weg zurück hinter die Reformen würde zwangsläufig scheitern.

SZ: Die meisten Mitglieder des „Notstandskomitees“ waren Ihre engen Mitarbeiter. Wie konnte sich ein erfahrener Politiker so täuschen in seinen Helfern?

Gorbatschow: Es gibt genug historische Beispiele dafür. Cäsar zum Beispiel. Er hat Brutus zu seinem Nachfolger vorbereitet – und empfing den letzten seiner 23 Messerstiche von eben diesem Brutus. Um einen Menschen wirklich kennen zu lernen, muss man ihn anhand der Verlockungen der Macht testen.

Die Putschisten waren anfangs meine Weggefährten, sie unterstützen die Perestrojka. Erst die Zeit hat uns auseinander gebracht. Die Demokratie war eine schwere Prüfung für alle Beteiligten. Einige haben nicht bestanden.

SZ: Sie fuhren im August also völlig ahnungslos auf die Krim in Urlaub?

Gorbatschow: Ich hätte in Moskau bleiben sollen. Wäre ich zehn Tage länger im Kreml geblieben, wäre nichts passiert. Das werfe ich mir vor. Und nicht nur das. Ich hätte die Partei bis zum Ende reformieren sollen.

Als meine innerparteilichen Gegner das erste Mal versuchten, mich unter Druck zu setzen, und ich das erste Mal mit Rücktritt als Generalsekretär drohte, da hätte ich bis zum Ende gehen und die Kommunistische Partei spalten sollen.

Aber wissen sie: Ich bin als Schüler der zehnten Klasse in die KP eingetreten, mit dieser Partei war mein ganzes Leben verbunden, ich wollte sie zu einer normalen Partei machen, nicht zerstören.

SZ: Sie sagen, Sie haben nichts geahnt. Die Putschisten hingegen haben behauptet, Gorbatschow sei in ihre Pläne eingeweiht gewesen.

Gorbatschow: Sie lügen – alle. Sie wussten, dass es nach dem neuen Unionsvertrag neue Wahlen geben würde und ihre Karrieren einfach enden würden. Darum haben sie geputscht.

SZ: Ihre Parolen hießen Perestrojka und Glasnost, also Umbau der Wirtschaft und mehr politische Freiheit. Die Wirtschaftsreform scheiterte schnell. Und Glasnost ließ in den Sowjetrepubliken der Unabhängigkeitswunsch erwachen.

Gorbatschow: Warum denken alle, dass die Perestrojka so schnell hätte greifen können? Wie können Wirtschaftsreformen in so einem großen Land wie Russland nach vier Jahren vollendet sein?

Anfangs hatten wir versucht, die führende Rolle der KP zu erhalten und zugleich die Wirtschaft zu reformieren. Das hat nicht funktioniert. Also war klar: Ohne politische Reformen keine Wirtschaftsreformen. Dann kam Glasnost.

Nur so war es möglich, die Meinung der Bürger zu berücksichtigen, konnte man einen demokratischen Weg gehen, waren Reformen möglich.

SZ: Wann haben Sie gemerkt, dass Sie den Reformprozess nicht mehr unter Kontrolle haben?

Gorbatschow: Vor dem Putsch habe ich dieses Gefühl nie gehabt. Ich war mir meiner Sache absolut sicher. Alles war durchdacht, unser Weg war gut vorbereitet. Es gab zwar einzelne Proteste im Land. Aber das war nicht entscheidend. Die Lage wurde erst schwierig, als Boris Jelzin in den Vordergrund trat. Er versuchte offen, die Macht des Zentrums zu untergraben.

SZ: Sie beharren bis heute darauf, dass eine erneuerte Union der Republiken, eine Art liberaler Neuauflage der UdSSR, die Perestrojka zum Erfolg geführt hätte. Aber wer außer ihnen wollte diese neue Union?

Gorbatschow: Allen Sowjet-Republiken hätte die neue Union Vorteile gebracht. Welche dieser 15 Ex-Sowjetrepubliken lebt denn heute gut?

SZ: Die Ukrainer leben nicht schlechter als die Russen.

Gorbatschow: Ja – aber zwei Drittel der Russen leben doch in größter Not und Armut. Ein Lehrer braucht zwei, drei Jobs, um überleben zu können. So leben die Russen heute.

Selbst Jelzin hat am Ende eingeräumt, dass heute nur zehn bis zwölf Prozent der Russen besser leben als noch vor zehn Jahren.

SZ: Bei aller Kritik an Jelzin – erkennen Sie an, dass er es war, der den Putsch zum Scheitern brachte?

Gorbatschow: Ja. In jenen August-Tagen leitete er den Widerstand. Das ist ein großer Verdienst. Aber Jelzin war nie ein Reformer. Was er aus meinen Reformen gemacht hat, hat er doch nur für den Erhalt der eigenen Macht getan. Er selbst hätte nie eine einzige Reform versucht. Boris Nikolajewitsch ist kein Reformer, er ist ein Spieler.

SZ: Jelzin, lange Symbolfigur der russischen Demokratie, ist kein Demokrat?

Gorbatschow: Natürlich ist Jelzin kein Demokrat. Eher ist er ein Zar – für ihn ist die Macht reiner Selbstzweck. Jelzins Anhänger haben versucht, sein demokratisches Image zu schönen, weil sie ihn an die Macht gebracht hatten. Aber er hat sie dann alle verraten.

SZ: Könnten sie Jelzin heute trotz allem die Hand geben?

Gorbatschow: Nein. Ich will gar nichts mehr mit ihm zu tun haben. Seit Ende Dezember 1991, als ich mein Amt als Sowjetpräsident niederlegte, habe ich keinen Kontakt zu ihm.

SZ: Ist denn sein Nachfolger ein Demokrat?

Gorbatschow: Ich glaube, dass Wladimir Putin die demokratischen Werte zu schätzen weiß. Und je länger er im Amt ist, desto mehr wird er sie schätzen. Er will, dass der russische Staat funktioniert. Er will eine Justizreform. Die russischen Gerichte sind bis heute korrupt, sie arbeiten nicht.

Er will, dass die Machtkompetenzen richtig verteilt werden im Staatsapparat. Er will, dass die Föderation funktioniert, welche im Moment gelähmt ist.

Ich gebe zu: Manche von Putins Schritten sind hart. Aber das muss sein, um die Maschine in Gang zu setzen. Und er tut alles mit demokratischen Mitteln.

SZ: Soviel Vertrauen in einen Mann, der aus dem KGB stammt? Immerhin war es der KGB, der den August-Putsch gegen Sie organisierte.

Gorbatschow: Soll ich Angst vor Putin haben, bloß weil er aus dem KGB kommt? Es kommt immer auf den jeweiligen Menschen an, auf seine Überzeugungen. Ich habe Putin gesagt, dass manche befürchten, er werde ein autoritären Regime errichten.

Das hat er heftig bestritten. Er wolle, dass eine wirklicher Rechtsstaat entsteht. Dass es ein System der check and balances entsteht. Dass die Beschlüsse des Präsidenten nicht schon am Stadtrand von Moskau bedeutungslos werden, sondern in ganz Russland gelten.

Ich sage nicht, dass Russland durch Putin schon stabil geworden ist. Aber die Menschen schöpfen wieder Hoffnung.

Er sieht, dass Russland eine Politik braucht, welche die nationalen Interessen schützt und nicht die Interessen einzelner Clans.

SZ: Stört sie gar nicht, wie schroff Putin mit den Medien umgeht?

Gorbatschow: Für mich ist die Medienfreiheit in Russland gesichert. Ich habe mit Putin über das Thema gesprochen. Er hat gesagt: Die Presse muss frei sein, aber sie muss sich verantwortlich verhalten. Damit bin ich voll einverstanden. Eine andere Sache ist das, was in den Regionen passiert. Dort werden die Medien kontrolliert und unterdrückt.

SZ: Nur in den Regionen? Was ist mit Putins Vorgehen gegen den ehemals un-abhängigen TV-Sender NTW? Die NTW-Leute haben Sie mehrfach zu Hilfe gerufen.

Gorbatschow: Putin ist nicht gegen NTW vorgegangen. Er hat immer gesagt, er wolle dass NTW ein privater unabhängiger Sender bleibt, dass die Redaktion erhalten bleiben solle. Was die Finanzen von NTW angeht – da war offenbar vieles nicht sauber.

SZ: Und der Krieg in Tschetschenien?

Gorbatschow: Keiner weiß, was man in Tschetschenien machen soll. Klar ist, man kann dieses Problem nur politisch und wirtschaftlich lösen kann. Das weiß auch Putin. Er muss ein Modell finden, dass Tschetschenien gewisse Selbständigkeit garantiert, es aber als Teil Russlands erhält.

SZ: War Putins Entscheidung, einen zweiten Kaukasuskrieg zu führen, denn wirklich unumgänglich?

Gorbatschow: Die Rebellen wollten einen fundamentalistischen islamischen Staat für den gesamten Kaukasus errichten. Sie sind im August 1999 nach Dagestan eingedrungen. Dagestan musste man doch retten vor den Islamisten. So hat der zweite Tschetschenien-Krieg begonnen.

SZ: Im Verlauf Ihrer Reformen sind Sie vom Volkshelden zum Buhmann geworden.

Gorbatschow: Ich habe nie empfunden, dass mich etwas von meinem Volk trennt. Niemals. Wenn ich heute irgendwo auftauche, reagieren die Leute ganz normal. Natürlich sagen manche, ohne Perestrojka würden sie wie früher leben und ich wäre wahrscheinlich noch immer KP-Generalsekretär. Dann stelle ich die Frage, wozu haben wir überhaupt etwas im Leben gelernt? Wenn sich die ganze Welt rasant ändert, sollen wir Russen dann weiter vor uns hin faulen und im Wodka ertrinken?

SZ: Wenn Sie zehn Jahre nach dem Putsch bilanzieren: Sehen Sie sich als Reformer, als Revolutionär oder als einen Politiker, der ungewollt um sich herum alles zerstört hat?

Gorbatschow: Das muss die Geschichte entscheiden. Die Geschichte ist launisch, aber auch gerecht. Ich selbst lebe heute und mache mir darüber keine Gedanken.

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Ich glaube nicht, dass die Korruption an den Gerichten und anderswo endet-vorlaeufig- das dauert wohl noch Jahrzehnte, oder ?

Schafft Putin dies ueberhaupt ?

gruss
dizarus

Hi!

Zuerst einmal danke für den Text - war sehr interessant zu lesen.

Ich glaube nicht, dass die Korruption an den Gerichten und
anderswo endet-vorlaeufig- das dauert wohl noch Jahrzehnte,
oder ?

Schafft Putin dies ueberhaupt ?

Ich halte es für sehr schwierig, Dinge, die Jahrzehnte lang „falsch“ gelaufen sind, in kurzer Zeit zu ändern!
Ich weiß auch ehrlich gesagt nicht, was ich von Putin halten soll - er macht immer einen so eiskalten Eindruck auf mich (rein subjektiv).

Grüße
Guido

Hallo dizarus,

und wie ist deine persönliche meinung dazu?

B2

Hallo B2,

und wie ist deine persönliche meinung dazu?

soo wie’s dort steht - im wesentlichen -daher setze ich im grossen ganzen nur etwas ab -wo ich mich identifizieren kann

Gruss
dizarus

Hi!

Ich weiß auch ehrlich gesagt nicht, was ich von Putin halten
soll - er macht immer einen so eiskalten Eindruck auf mich
(rein subjektiv).

Ja schon - weniger emotional wie sonst die russen oft -eher sachlich, Technokrat ?

Schafft ers denn auf Dauer ?

Gruss
dizarus

Hallo dizarus,

danke für deine antwort. ich habe ja nur gefragt, weil du dort eine zeitung zitierst und darunten verständlicher weise nach dre meinung der anderen fragt. hut ab, ist schon selten ja eine eigene meinung identisch ist mit der meinung einer zeitung. dies habe ich nicht ironisch gemeint, bitte nicht falsch verstehen.

B2

Hallo dizarus,

was soll putin schaffen?

bitte folgendes beachten:

  • die bevölkerung plagt den verlust der nationalen größe, der staatlichen ordnung und die wirtschaftliche last
  • putin rehabilitierte den geiheimdienst und das militär, alte hymne und rote fahne wurden wiederbelebt
  • der aufbau einer demokratischen zivilgesellschaft ist gescheitert

als folge ist zu sehen, der radikalübergang zur marktwirtschaft stürzte fast die gesamte bevölkerung in die soziale verelendung.

ich denke russland ist auf dem weg dahin, wo es vor 10 jahren aufgehört hat.

B2

P.S. übrigens, wir bekommen noch geld von russland.