Die historischen Wurzeln der Mythen

Der Garten Eden Mythos

Das Ergebnis aus dem Thread „Warum die Vertreibung“ ist folgendes:
es gibt keine vernünftige religiöse Erklärung für die Sinnhaftigkeit dieses Mythos

Zur Frage, ob es Sinn macht, von der Sinnhaftigkeit eines Mythos zu reden, siehe mein Austausch mit Tychiades/Ralf
/t/warum-die-vetreibung/6449226/9

der Mythos ist auch keine Legitimation für momentanes Handeln zum Zeitpunkt der Aufzeichnung

Dazu muß man wissen, welche Rolle der Mythos in der jeweiligen Gegenwart seiner Rezitation spielt. Hierin unterscheiden sich btw. kosmogonische Mythen von einer Reihe anderer Typen. Grundsätzlich gilt:
Die rezitative oder szenische Reaktualisierung des Mythos stellt die Verbindung her zwischen einer Gegenwart und einem sog. archetypischen Präzedenzfall, d.h dem mythischen „Ersten Mal“ dieses Geschehens. Initiationsriten und Gründungsriten (zahlreiche Beispiele in dem von mir öfter verlinkten Publikation dazu).

Bei kosmogonischen (=Schöpfungs-)Mythen (von denen die beiden israelitischen aus 1. Mose lediglich Beispiele sind!) liegt es etwas anders. Sie gründen in Fragen des Lebens- und Weltverständnisses generell. Die mythenlogische Methode dazu ist: Das, was jetzt ist, ist eine Folge eines primordialen Geschehens, nicht in einer historisch früheren Zeit, sondern in einer mythischen Zeit jenseits der historischen. Das schlägt sich nieder in einer Art interkulturellem Text-Standard: Fast immer wird in den Einleitungszeilen „Himmel und Erde“ benannt und der Verweis auf die mythische Zeit (bei der also nicht gefragt werden kann: „Wann war das?“) zeigt sich in Formeln wie „Als damals …“,„Am Tag als …“, „Als … noch nicht …“ oder „Als zum ersten Mal …“. (Ein anderes Beispiel für den Verweis auf eine Zeit jenseits der historischen Zeit, zu der es kein „Wann?“ gibt, ist die Märcheneinleitung „Es war einmal“, „Once upon a time“)

es ist keinerlei Motivation für die Erfindung dieser Geschichte zu erkennen

Solche Geschichten, wie sie sich in sumerischen, babylonischen, ägyptischen (Pyramidentexte), altnordischen (Voluspa) oder frühindischen Texten (Rgveda, Upanischaden) werden nicht in diesem Sinne „erfunden“. Bevor sie irgendwann textlich fixiert werden, haben sie zig Generationen hinter sich, in denen sie Gegenstand nur mündlicher Weitergabe waren. Daher kommt es auch, daß sie alle kontaminiert sind von ähnlichen oder analogen Erzählungen anderer Völker, Stämme. Oder sie sind Variationen von anderen schon bekannten Erzählungen.

Daher ist es für die Frage, welche Rolle sie zur Zeit der schriftlichen Fixierung hatten, nicht unbedeutend, ihre erzählerischen Elemente auf Verwandtschaft und Herkunft aus anderen Mythen gleicher Art zu untersuchen.

der Mythos erklärt auch keinerlei kosmische oder physikalische Fragen der Menschheit

Wenn du damit heutige naturwissenschaftliche Erkenntnisse meinst, erübrigt sich natürlich jede weitere Kommentierung.

Speziell zum Garten Eden Mythos. Und zwar hier nur auf die „Adam, Eva“ Episode abgehoben. Die Kain/Abel Episode ist eine ganz andere Komponente:

  1. Er hat alle oben erwähnten „Standards“: „Am Tag als“, „Al … noch nicht …“, „Himmel und Erde“ usw.

  2. Er gibt eine mythenlogische Antwort auf die Frage: Woher kommt die Menschheit". Diese Frage „woher“ oder „wie kommt es, daß“ ist wie oben gesagt, das Hauptmotiv.

  3. Die Reflektion „Das Leben ist beschwerlich“ impliziert den Vergleich mit denkbaren besseren Lebensformen. Da diese denkbar sind, muß es einen Grund geben, warum das denkbare Bessere nicht real ist. Mythen vom Typ urzeitliches „goldenes Zeitalter“ oder „wunderbare Umgebung“ („gan eden“ heißt u.a. „Lustgarten“. Anderes Beispiel Awesta: garo demana „Haus des Gesanges“ i.Ggs. zu drujo demana „Haus der Lüge“) geben dann eine Begründung, warum dieser Urzustand nicht mehr die reale Lebenswelt bestimmt. Das mag dann ein Streit zwischen Geschwistern/Zwillingen, ein Kampf gegen ein Urungeheuer oder ähnliches sein.

  4. Der Garten Eden Mythos hat nun unter anderem die Fragevoraussetzung: Wir haben ein moralisches Bewußtsein. Wir haben Begriffe von moralisch gut und moralisch schlecht. Und außerdem ganz allgemein haben wir Denkvermögen, das im Wesentlichen auf Unterschiedungsvermögen, Urteilsvermögen beruht. Dies ist eine göttliche Eigenschaft. Wie kommt also der Mensch zum Besitz einer göttlichen Eigenschaft? Diese Eigenschaft werden die Götter (hier DER Gott) nicht von sich aus dem Menschen mitgegeben haben. Folglich muß er sich das mithilfe einer List ergattert haben. Ein analoges beispiel ist Prometheus, der das Feuer den Göttern stielt (wofür er ebenfalls bestraft wird! Vor allem dadurch, daß er den Zugang zur Sphäre des Göttlichen verliert und in den Mangelzustand aller dieser göttlichen Vorzüge versetzt wird).

Hier wird der Mensch, eindeutig der Ackerbaugesellschaft zugeordnet (ein Zeichen für die Epoche der Entstenung des Mythos) also verstanden als aus dem Erdboden enstanden, aus dem er kommt und in den er auch wieder geht. Seine Aufgabe ist die, die Oase zu pflegen.

Daß der Mensch paarweise existiert, wodurch seine Einsamkeit aufgehoben wird, wird dadurch erklärt, daß eine „Gehilfin“ aus seiner Seite (2.21 Es ist NICHT eine Rippe!) genommen wird. Das ist zugleich die mythische Begründung der Sexualität: Getrenntes will sich wieder vereinigen (analog die Erklärung im „Symposion“ des Platon).

Der Baumdämon (die im Baum lebende Schlange ist geerbt aus der babylonischen Baumdämon-Triade „lil/lilitu/lili“". Daher auch die sehr viel spätere(!) Einflechtung der Lilith-Gestalt. Siehe FAQ:3347). In diesen Dämon wird das als Wissen projiziert, was dem Menschen eh bewußt ist: Er hat eine göttliche Eigenschaft. Dieses „ihr werdet sein wie Gott“ (3.5) ist ja eben keine Täuschung. Der Gott gibt es ja selbst zu „Der Mensch ist nun … wie einer von uns geworden“ (3.22).

Und viele andere Details sind allein in dieser kruzen Erzählung enthalten. Alle haben den Hintergrund: Der ungute Zustand hier und jetzt wird als nicht ursprünglich aufgefaßt, und daher wird erklärt, wieso der ursprüngliche Zustand nicht mehr real ist. Dabei werden Elemente zusammengefügt, die teils aus eigenen, teils aus anderen Traditionen stammen.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Baum im Zentrum des Kosmos ist weitverbreitetes kosmogonischen Mythem (um nur Yggdrasil zu nennen). Aber hier stehen zwei Bäume! Der Baum des Lebens wird sogar zuerst genannt (2.9.). Das ist eine Besonderheit die sich sonst nirgendwo findet. Das dürfte also anderswoher kontaminiert sein. Und tatsächlich gibt es ja eine Inkonsistenz in der Erzählung: Die Folge des Essens der Frucht ist unter anderem „du wirst sicherlich sterben“ (wörtlich „du wirst Sterben sterben“ 2.17). Aber nachdem der Mensch aus der Oase vertrieben ist, sagt der Gott „… daß er nicht auch noch von der Fruchte des Lebensbaumes nehme … und ewig lebe“ 3.22. Der Mensch war demnach auch vorher schon sterblich, nicht jetzt erst.

Soetwas kann man als einen Hinweis sehen, daß die Amalgamierung verschiedener Mytheme nicht ganz gelungen ist.

Ich hoffe, daß dieser Kurzüberblick dein Fragen einigermaßen beantwortet.

Gruß
Metapher