Einen guten Abend…
(ist ja schon ein bisschen spät).
Mit großem Interesse (keine Sorge, ich beziehe mich jetzt nicht auf eine Stellenanzeige und bewerbe mich auch nicht, auch wenn derartige Schreiben in der Regel so beginnen *g) verfolge ich die Diskussionen in diesem Brett. Auch ich als Nicht-Akademikerin und bekennendem Idioten („Ich weiß, dass ich nichts weiß“) mache mir doch immer wieder Gedanken über die Themen, die hier immer wieder angesprochen/-gefragt etc. werden. Z.B. Sinn des Lebens / Zeit+Raum / Angst+Furcht - um nur einige der letzten zu erwähnen. Es mag für Fachleute, d.h. Wissenschaftler, ja möglicherweise nicht von besonderer Bedeutung sein, dass es neben den gängigen Lehrmeinungen (und entsprechenden Präverenzen der einzelnen Diskutanten) auch Menschen gibt, die in völliger Unkenntnis der dokumentierten und diskutierten gedanklichen Phänomene nicht nur emotional sondern auch geistig Anteil an dem nehmen, was unsere Existenz betrifft. Und da stolpere ich über die Beschreibung dieses Bretts:
„Die „Liebe zur Weisheit“. Auch diese Liebe beinhaltet Leidenschaft. Also seid leidenschaftlich! Und weise - im Umgang miteinander.“
Wow! Hier wird doch tatsächlich kein Hochschulabschluss und keine Dissertation als Zulassungsbedingung zum Mit-denken und -reden gefordert! Könnte es also durchaus sein, dass sich Weisheit nicht nur darin äußert, dass man fähig ist, verschiedene Thesen und/oder Lehrmeinungen gegeneinander auszuspielen in der Absicht, als „Gewinner“ aus dem Disput hervorzugehen??? Und darf ich in Liebe und aus Leidenschaft mit einem ganzen Buckel von ungefiltertem (weil begeisterten) Lesen, eigener Lebenserfahrung, Beobachteten, Reflektierten, Geschaffenen eine Auffassung haben, die in keines der immer wieder bemühten Raster passt? Für mich habe ich diese Frage längst beantwortet *smile*…
Bitte verzeihen Sie mir diesen einführenden Exkurs, um nun endlich auf meine eigentliche Frage zu kommen:
Sie, die (vorzugsweise) Herren dieser Wissenschaft: wie leben Sie denn? Leben Sie nach Lehrmeinung, haben sie sich für einen „Lieblingsphilosophen“ entschieden, wem oder was eifern Sie nach? Oder: Haben Sie vielleicht auch so etwas wie eine eigene Lebensphilosophie? Und woraus schöpfen Sie diese? Und wie können Sie - ggf. selbstverständlich - diese eigene mit der ihres „Meisters“ verbinden?
(Die gesiezte> Fragestellung birgt keinerlei Ironie in sich, es geht mir dabei lediglich darum, eine gewisse höfliche Distanz herzustellen, um nicht gleich wieder mit emotional gefärbten Vernichtungskaskaden überschüttet zu werden…).
Immer wieder neugierig:
Anja
(PS: Fritz, falls Du an meinem Deutsch was zu meckern hast bzw. eklatante orthographische oder grammatikalische Fehler entdeckst, darfst Du sie mir gerne mailen…)
Wissen =/ Weiheit
Einen guten Morgen Anja,
erst mal ein grosses Dankeschön für Deinen Beitrag. Deine Eingangsausführungen gibt mir jetzt endlich mal die richtige Gelegenheit ein paar Vorurteile klarzustellen.
Es mag für Fachleute, d.h.Wissenschaftler, ja möglicherweise nicht :von besonderer Bedeutung sein, dass es neben den gängigen :Lehrmeinungen (und entsprechenden Präverenzen der einzelnen Diskutanten) auch Menschen gibt, die in völliger Unkenntnis der :dokumentierten und diskutierten gedanklichen Phänomene nicht nur :emotional sondern auch geistig Anteil an dem nehmen, was unsere :Existenz betrifft.
Mal von den Fachidioten abgesehen, die es in jedem Bereich gibt und die sich liebend gerne auf ihrem Dünkel der Wissenschaft ausruhen, trifft das auf die Philosophie wohl kaum zu. Das Schwierige im Umgang mit Menschen dieser Profession hängt damit zusammen, dass es eigentlich schon seit der griechischen Philosophie eine Zweiteilung gab: eine eher systematisch orientierte Begriffsphilosophie und eine eher intuitive oder, wie Du sagst, emotionale Diskussion, die man meist die Agora-oder Marktplatzphilosophie nennt (denk Dir Sokrates, der auf dem Marktplatz die Händler nervt…).
Hinter dieser Zweitteilung steht keine Bewertung, und auch wenn gewisse diese dennoch ausleben um den lediglich Interessierten vorzuhalten, was sie alles nicht wissen und dass sie daher nicht mal Recht auf ihre Meinung hätten, haben imho überhaupt nichts verstanden. Es braucht beide Arten der Betrachtung. Es braucht die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit komplexen Themen. Aber wie immer, hat die Wissenschaft die Tendenz sich vom Lebenden zu entfernen, von der Anwendbarkeit, schliesslich von der Realität. Und genau dann braucht es die Interessierten, die Agora-Philosophen, die den Spiegel zücken und den Fachleuten (den Akademie-Philosophen) wieder in Erinnerung rufen, was nun tatsächlich beantwortet werden sollte und was Gedankenexperiment ist (kurzer wiss. Einwurf bevor die ersten Steine fliegen: ich beziehe mich hier beispielsweise auf die Neo-Lokianische Schule, die beim Thema der Personalen Identität von absolut phantastischen Gedankenexperimenten ausgeht und darüber die Realität schon längst aus den Augen verloren hat…)
Wow! Hier wird doch tatsächlich kein Hochschulabschluss und
keine Dissertation als Zulassungsbedingung zum Mit-denken und
-reden gefordert! Könnte es also durchaus sein, dass sich
Weisheit nicht nur darin äußert, dass man fähig ist,
verschiedene Thesen und/oder Lehrmeinungen gegeneinander
auszuspielen in der Absicht, als „Gewinner“ aus dem Disput
hervorzugehen???
Na klar. Denn Wissen ist nicht gleichbedeutend mit Weisheit. Wenn Weisheit einfach die quantitative Menge allen Wissens wäre, dann könnte man doch davon ausgehen, dass unsere Generation eine der weisesten der Menschheit wäre (und die nachfolgende wäre demnach noch weiser), oder? Weisheit lässt kein akkumulatives Wissen zu. Weisheit ist eher, die Art und Weise, WIE man mit seinem Wissen und der Welt umgeht. Wie setzt man es ein um sich stellende Fragen zu lösen etc.
Die Leidenschaf,t die Du ansprichst, ist daher besonders wichtig, weil es hier nicht um Fragen aus klinischen, völlig losgelösten Bereichen geht, sondern immer um Lebensbereiche, die neben dem Fachmenschen, auch den Menschen als solches betreffen und da ist eben auch wahre Verbundenheit mit dem Problem gefragt. Ein Beispiel: was ist an einem Philosophiehistoriker (Prof.) fürs Mittelalter falsch, der ernsthaft davon ausgeht, dass die Philosophie des Mittelalters uns heute nichts mehr zu sagen hat und sich die Forschung nur aus reiner Neugier lohnt? (Das ist kein konstruierter Fall, sondern ein alter Bekannter von mir…)
Sie, die (vorzugsweise) Herren dieser Wissenschaft:
Ähem… und die Frauen? Darf ich jetzt auch antworten?
wie
leben Sie denn? Leben Sie nach Lehrmeinung, haben sie
sich für einen „Lieblingsphilosophen“ entschieden, wem oder
was eifern Sie nach? Oder: Haben Sie vielleicht auch so etwas
wie eine eigene Lebensphilosophie? Und woraus schöpfen
Sie diese? Und wie können Sie - ggf. selbstverständlich -
diese eigene mit der ihres „Meisters“ verbinden?
Da sind wir doch wieder bei der Leidenschaft. Eine der ersten Einsichten, die man im Umgang mit Profi-Philosophen hat, ist dass es zwei Sorten gibt: die Kommentatoren und die Philosophen. Kommentatoren sind meist wunderbare Didakten, und können in wahnsinniger Kleinstarbeit alle kleinen Kommentare und Meinungen, die es zu einem Thema gibt, darstellen und vermitteln. Da sie aber Kommentatoren sind, leisten sie sich keine Meinung zu dem was sie tun.
Philosophen allerdings, sind leidenschaftlicher. Da bekommt man auch einmal ein „Die Erklärung passt mir gar nicht“ oder ein „Das ist doch Unfug…“ zu hören.
Diese kurze Zweitteilung nur als Skizze.
Meist ist es doch so: man kann nicht hinter gewisse Erkenntnisse zurückgehen. Damit will ich sagen, dass, wenn man bei, einem Philosophen beispielsweise, eine wirklich überzeugende Erklärung für einen Umstand oder ein Problem gefunden hat, ist es schwer diese zu ignorieren. Und zwangsläufig übernimmt man dann auf die eine oder andere Art diese Sichtweise oder die Erklärung. Es gibt reine Schul-philosophen, wie die Anhänger Heideggers beispielsweise, die eine wahre Schule bilden. Aber, dass sich diese bereits so sehr von ihrem Ur-Lehrer entfernt hat, dass eine unpolitische Diskussion bald nicht mehr möglich ist, werden diese dann wohl zuletzt bemerken…
Philosophie ist eigentlich die Lehre die Welt zu betrachten und und unsere eigene Position und Wahrnehmung in dieser Welt zu hinterfragen. Dass es in dieser Definition der Philosophie wenig Platz für Dogmatik gibt, erklärt sich von selbst. Alles andere sind eben Lehrmeinungen und hochgestochenes Akademie-Gerede, das eben auch seine Berechtigung hat. (s.o.)
Philosophische Grüsse
Y.-
Einen wunderschönen guten Mittag Bettina,
„Der Mensch passt sich der Natur an, indem er die Natur sich anpasst.“ (G. Branstner)
Philosophie ist eigentlich die Lehre die Welt zu betrachten
und und unsere eigene Position und Wahrnehmung in dieser Welt
zu hinterfragen. Dass es in dieser Definition der Philosophie
wenig Platz für Dogmatik gibt, erklärt sich von selbst. Alles
andere sind eben Lehrmeinungen und hochgestochenes
Akademie-Gerede, das eben auch seine Berechtigung hat. (s.o.)
Schön gesagt.
Obiges Gesetz, von Darwin abgeleitet auf die menschliche Gesellschaft, beinhaltet auch die Denkweise. Reflektiert wird es durch die Entwicklung der Philosophie. Angefangen bei einfachsten Hyroglyphen zur Darstellöung von Zusammenhängen, hin über die Kette verschiedenster Philosophen und ihrer Erkenntnisse, hat sich unser heutiges, durchschnittliches Weltbild entwickelt. Die Gesellschaft ist sogar so aufgebaut. Wo früher die Urmenschen sich in regelmäßigen Abständen ihrer überlebensnotwendigen Ressourcen beraubt haben, lässt sich diese Linie bis in die heutige Neuzeit anhand der Entwicklung der Denkweise und damit einhergehenden wissenschaftlichen Errungenschaften und der Produktionsweise nachvollziehen.
Dieses Gesetz der Anpassung ist es, was uns zu immer neuwen Erkenntnissen zwingt und ein immer deutlicheres Weltbild erfordert. Die Grundlagen dafür schafft die Philosophie.
Gruß
Frank
ich persönlich
Hallo Anja,
Sie, die (vorzugsweise) Herren dieser Wissenschaft: wie
leben Sie denn? Leben Sie nach Lehrmeinung, haben sie
sich für einen „Lieblingsphilosophen“ entschieden, wem oder
was eifern Sie nach? Oder: Haben Sie vielleicht auch so etwas
wie eine eigene Lebensphilosophie? Und woraus schöpfen
Sie diese? Und wie können Sie - ggf. selbstverständlich -
diese eigene mit der ihres „Meisters“ verbinden?
ich antworte spät, weil ich mich eigentlich nicht richtig angesprochen fühle, denn ich empfinde mich nicht als „Herr dieser Wissenschaft“. Wenn du mich vor zehn oder fünfzehn Jahren gefragt hättest, hätte ich vermutlich ohne Zögern geantwortet, aber heute ist mir das nicht mehr möglich. Du meinst ja mit „Herren der Wissenschaft“ vornehmlich akademische Philosophen, also solche, die in der akademischen Philosophie tätig sind, und das bin ich nicht (mehr).
Das bedeutet keineswegs, dass ich die akademische Philosophie verabscheue oder ignoriere, nein, sondern ich schätze und achte sie im Gegenteil sehr hoch, nur bin ich nicht in ihr tätig. Wer in der akad. Phil. tätig sein will, muss sehr viel Energie auf die Karriere aufwenden und die Eigenschaft, an der eigenen Karriere interessiert zu sein, geht mir (leider) ab. Die in der Phil. akademisch tätigen müssen zumindest bis zu ihrer Professur in der Regel eine Spagat hinlegen zwischen dem, was sie wollen und dem, was sie dürfen. Diese Spannung ist mir zuwider, weil sie mehr mit Macht als mit Wahrheit zu tun hat, und um die letztere sollte es der Philosophie ja eigentlich gehen.
Wie ich lebe? Ich lebe nicht nach Lehrmeinungen und habe auch keinen Lieblingsphilosophen. Viele meinen, mein Lieblingsphilosoph sei Kant, aber das ist nicht richtig. Ich habe an Kant viel zu kritisieren, aber diese Kritik kann man erst nachvollziehen, wenn man Kant „durchlebt“ hat (um mal einen ungewöhnlichen Terminus zu benutzen). Deshalb lege ich so viel Wert darauf, dass Kant (immer wieder) gelesen wird.
Selbst zu denken ist das, was Kant lehrt, aber auch andere lehren. Das bedeutet wiederum nicht, dass man das, was man von anderen Philosophen möglicherweise lernen könnte, einfach verwirft. Es bedeutet, dass man so gut man kann seinem Gewissen folgt und alles prüft. Dass es natürlich vieles gibt, was andere schon gedacht haben, liegt außer Zweifel, und deshalb ist für mich die Formulierung wichtig, dass wir auch als Selbstdenker „auf den Schultern von Riesen“ (eine Formulierung des Mittelalters) stehen, die manches klarer gesehen haben, als wir selbst es je sehen können. Diese Kompromisslosigkeit im Prüfen hat mir äußerlich schon oft geschadet, innerlich aber meine ich, dass sie mir geholfen hat.
Wie ich lebe? Eigentlich ganz normal, bis auf die Tatsache, dass ich versuche, die einzugehenden Kompromisse zu weit es geht, ohne anderen zu schaden, zu minimieren. Ganz ohne geht es nicht, wenn man beispielsweise Familie oder andere Verantwortungen hat. Dieses Leben ist - um mit Nietzsche zu sprechen - schon mit einem Trapezkünstler vergleichbar, der jederzeit abstürzen kann. Aber dafür fühlt er sich auf der anderen Seite frei, weil er Dinge tun kann, vor denen andere sich fürchten.
Ich bin natürlich weit davon entfernt zu behaupten, dass ich es in dieser Kompromisslosigkeit zur Meisterschaft gebracht hätte. Eher sehe ich mich heute als Wegweiser (Achtung: nicht etwa als Weiser!) für andere, der Erfahrungen gemacht hat, die andere noch nicht gemacht haben, aber vielleicht auch nicht zu machen brauchen. Vielleicht kann ich das am ehesten beschreiben, indem ich behaupte, dass ich versuche, authentisch zu sein (aber das Wort „authentisch“ ist nicht eindeutig, also eigentlich auch nicht angemessen, um das was ich meine zu beschreiben).
Ich versuche es anders: „Philosophisch leben“ heißt für mich zu versuchen, ein autarkes Leben zu führen. Und das heißt, ein Leben in Urteilen zu leben, nicht in Vorurteilen. Aber ich bin mir natürlich bewusst, dass es ein Versuch bleibt - vielleicht sogar bleiben muss.
Herzliche Grüße
Thomas Miller