beide Varianten sind grammatikalisch korrekt. Welche der beiden Möglichkeiten du nun nehmen möchtest, ist reine Geschmackssache. Beides funktioniert auf jeden Fall.
in unmarkierter sprache setzt man das reflexivpronomen möglichst weit an den satzanfang. in dem beispiel ist es wirklich ziemlich egal; allenfalls mag im ersten fall eine leichte betonung der leser vorliegen, muß es aber nicht.
bei dem thema denke ich aber immer an den philosophen theodor w. adorno. wenn du also etwas zeit mitgebracht hast…
typisch für seinen (generell sehr speziellen) stil war es, das reflexivpronomen möglichst weit hinten im satz zu plazieren, es somit dicht vor das verb (bzw. in zusammengesetzten zeiten vor das partizip bzw. den infinitiv) zu setzen. ein paar beispiele mit anschließender „normalisierung“ der „sich-stellung“:
original adorno:„Heute hat der Muff, den keine Bomben explodieren ließen, mit der Wut auf die vorgebliche Unverständlichkeit der neuen Kunst sich verbündet.“ "normalisiert": „Heute hat sich der Muff, den keine Bomben explodieren ließen, mit der Wut auf die vorgebliche Unverständlichkeit der neuen Kunst verbündet.“
original adorno:„Das Gefühl, das nach Auschwitz gegen jede Behauptung von Positivität des Daseins als Salbadern, Unrecht an den Opfern sich sträubt, (…)“ "normalisiert": „Das Gefühl, das sich nach Auschwitz gegen jede Behauptung von Positivität des Daseins als Salbadern, Unrecht an den Opfern sträubt, (…)"
original adorno:„(…) nach Auschwitz lasse kein Gedicht mehr sich schreiben“ "normalisiert": „(…) nach Auschwitz lasse sich kein Gedicht mehr schreiben“
original adorno:„(die …) Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse" "normalisiert": „(die …) Frage, ob sich nach Auschwitz noch leben lasse"
hier kannst du einen ganzen artikel zu adornos stil lesen.
Irgendwie macht das aber auch Sinn. Die originalen Sätze haben deutlich mehr Flow als die ´normalisierten´, in denen das ´sich´ aufdringlich und spröde und an seiner vorgezogenen Stelle beinahe wie ein störender Fremdkörper wirkt, da sein Sinn (noch) nicht erkennbar ist. Dieser Sinn zeigt sich erst im Kontext des Verbs am Ende des Satzes. Logischerweise gehört das ´sich´ also dorthin, direkt vor das Verb.
da Nadja keine Muttersprachlerin ist, nur noch mal zur Sicherheit: Der Stil Adornos wirkt aber doch sehr speziell. Zumindest die letzten beiden Sätze würde ich in normalem Kontext als falsch empfinden. Erst wenn sie im Sprachduktus eines ganzen Textes passen, ist klar, dass das so sein soll.
Wenn man nicht gerade berühmte Philosophin, sondern Deutschstudierende ist, sollte man die normalisierte Fassung verwenden!
Dem schließe ich mich voll und ganz an, aber als - wie soll ich sagen - Sprachschaffende und fortgeschrittene Leserin, teile ich Chans Meinung und sage, Adorno ist schöner
Gruß,
Eva
P.S. Über die Stellung des „sich“ habe ich schon end- und fruchtlose Diskussionen mit Lektoren geführt
ich selbst, adoleszent und im banne des lateinunterrichts ein bald orgiastisches, bald nachgerade idiolatrisches (sic!) vergnügen an den der deutschen philosophischen rhetorik eigenen monstren der hypotaxe empfindend, liebte in der jugend ob ihrer geradezu barocken exzesse den stil adornos und anderer ebenso wie aus abstraktem verständnis, o höre und staune, die zumindest damals experimentell mich anmutenden sprachphantasien eines richard wagner.
indes, nach einigen jahrzehnten real life den schiefrunden perlen des elfenbeinturms entfernt und -fremdet, bevorzuge ich für sachtexte (zu denen ich philosophische ganz klar zähle) heute strukturen, die nur in kalkulierten momenten von einer unmarkierten, vulgo „normalen“ sprachebene sich entfernen. (was einer reichhaltigen palette an satzstrukturen und einem umfangreichen vokabular nicht entgegenstehen sollte.)
für die literatur aber – im eigentlichen sinne sprachkunst – galt und gilt jandl:
…er habe immer etwas zu sagen gehabt, und er habe immer gewußt, daß man es so und so und so sagen könne; und so habe er sich nie darum mühen müssen, etwas zu sagen, wohl aber um die art und weise dieses sagens. denn in dem, was man zu sagen hat, gibt es keine alternative; aber für die art und weise, es zu sagen, gibt es eine unbestimmte zahl von möglichkeiten. es gibt dichter, die alles mögliche sagen, und dies immer auf die gleiche weise. solches zu tun habe ihn nie gereizt;denn zu sagen gebe es schließlich nur eines; dieses aberimmer wieder, undauf immer neue weise.
gruß
arcanvm
p.s.
weil’s so gut ist, noch ein jandl:
klebend ich klebe an gott dem allmächtigen vater schöpfer himmels und aller verderbnis und an seinen in diese scheiße hineingeborenen sohn der zu sein ich selber mich wähne um mich schlagend um mein maul aus diesem meer von kot in die luft zu halten und immer noch atem zu kriegen warum nur weil ich ein von maßloser feigheit gesteuertes schwein bin unfähig willentlich unterzutauchen ins unausweichliche