Die Sache 'Kleiner Joseph aus Sebnitz'

Die Sache „Kleiner Joseph aus Sebnitz wurde im Freibad von Neonazis ertränkt und alle schauten weg“ ist zuende:

Laut Gutachten starb Joseph aus Sebnitz durch Badeunfall
Dresden (dpa) - Der kleine Joseph aus Sebnitz soll nach neuesten Erkenntnissen 1997 durch einen Badeunfall ums Leben gekommen sein. Das sei das Ergebnis des dritten medizinischen Gutachtens, berichtet die «Sächsische Zeitung». Diese ursprünglich schon genannte Todesursache sei nun bestätigt worden. Mit dem dritten Gutachten wollte sich die Staatsanwaltschaft Dresden Gewissheit verschaffen. Die Eltern des Sechsjährigen hatten behauptet, dass Neonazis ihn ertränkt und zahlreiche Badegäste weg gesehen hätten.

Ich hatte, als seinerzeit darüber diskutiert wurde, hier geäußert, die Angelegenheit sei zu greuelhaft und zu politisch korrekt. Mich würde interessieren, was die Meinung jener ist, die damals den Medienberichten („gaben Joseph einen Schlag aufs Ohr, daß er benommen war“; „er mußte Gift trinken“; „warfen ihn ins Wasser und sprangen ihm auf dem Rücken herum“; „schreckliches Geräusch von Zehen, die auf Beton kratzen“) geglaubt hatten.

  • Django -

Wahre und unwahre Gräueltaten
Hi Django!

Ich hatte, als seinerzeit darüber diskutiert wurde, hier
geäußert, die Angelegenheit sei zu greuelhaft und zu politisch
korrekt.

Worauf ich (heute wieder) entgegne, daß die Dinge nicht dadurch wahr oder unwahr sind, ob sie grauenhaft sind oder nicht. Die Morde sadistischer Einzeltäter, Kriegsverbrechen und Genozid sind auch „gräuelhaft“. Trotzdem gibt es sie. Interessant ist doch wohl eher die Frage, wie wir in einem gegebenen Einzelfall dazu kommen, solche Berichte für wahr oder unwahr zu halten.

Mich würde interessieren, was die Meinung jener ist,

die damals den Medienberichten („gaben Joseph einen Schlag
aufs Ohr, daß er benommen war“; „er mußte Gift trinken“;
„warfen ihn ins Wasser und sprangen ihm auf dem Rücken herum“;
„schreckliches Geräusch von Zehen, die auf Beton kratzen“)
geglaubt hatten.

Was möchtest Du jetzt hören? So eine Art Schuldeingeständnis? In der Art: „Ich bekenne, ich habe meiner Tageszeitung (der taz) einen schlecht recherchierten Artikel auf der Titelseite abgekauft“. Damit habe ich kein Problem: ich habe niemanden einen Mörder geschimpft, ich habe keine Sebnitzer Waren boykottiert, etc. Mein Wissen über das, was in dieser Welt vor sich geht, stammt eben zum größten Teil aus Medienberichten. Wenn die schlecht recherchiert sind, dann ist mein Wissen eben auch unvollständig oder schlichtweg falsch.

Gruß
Michael

Ich sehe eine andere Gefahr
…und zwar die, dass alle Neo- oder sonstige Nazis sich bei zukünftigen Taten immer darauf berufen können, dass die Pressebericht ja nicht stimmen „…genau wie damals bei dem Fall Josef…“.

Schon heute muss ich oft diesen Einwand hören.

Gruß
HaWeThie

Hi…

passt zwar nich ganz in jenes brett hier, aber:

Ich hatte, als seinerzeit darüber diskutiert wurde, hier
geäußert, die Angelegenheit sei zu greuelhaft und zu politisch
korrekt.

eben.
ein paradebeispiel fuer massenhaft brutalste glatzen und massenhaft fehlende zivilcourage - im osten - genau zur passenden zeit in die medien gebracht, als die diskussionen sowieso schon heiss waren. gehts besser?
an haaren herbeigezogene selbstinszenierung: „schaut her, wir tun was, wir empfangen, wir reden…“
laecherlich.
kennt wer den film „wag the dog“?
gruss, daniel

Hallo HaWeThie,

ich glaube, Du versuchst, das Pferd von hinten aufzuzäumen - es funktioniert nicht. Ich bin weder Neo- noch sonstige Nazi und sympathisiere auch nicht mit diesen Herrschaften. Aber: ob nun Nazi oder nicht, wenn die Beschuldigten den kleinen Josef nicht umgebracht haben, gibt es keinen Grund für eine Vorverurteilung.

Wir mögen die Ansichten dieser Typen noch so krank finden, aber: Erstens sind wir hier nicht in den Südstaaten (ich meine USA) und zweitens Deutschland ist immer noch ein Rechtsstaat, in dem zunächst einmal die Unschuldsvermutung gilt. Natürlich juckt es auch mir manchmal gewaltig in den Fingern, einen Kindermörder (egal ob Neo-Nazi, Pädophiler oder der ach so liebe und unauffällige Familienvater) eigenhändig und persönlich zu lynchen… Geht nicht: wir sind schließlich nicht der Ku-Klux-Clan, gell?

…und zwar die, dass alle Neo- oder sonstige Nazis sich bei
zukünftigen Taten immer darauf berufen können, dass die
Pressebericht ja nicht stimmen „…genau wie damals bei dem
Fall Josef…“.

Das glaube ich nicht. Gerade bei Kindermorden ist die StA wie der Teufel hinterher. Wäre Josef tatsächlich ermordet worden, wären die Täter längst zumindest in U-Haft. Seien wir doch realistisch: der Kleine ist nun mal an einem Herzversagen gestorben. Dafür kannst Du niemanden rechtskräftig verurteilen und einbuchten. Egal, wie sehr wir uns jetzt darüber aufregen, es wird Josef nicht wieder ins Leben zurückholen. Es ist passiert und wir können es nicht mehr ändern.

Ich will den Eltern jetzt nicht unbedingt Publicity-Geilheit vorwerfen, aber der Vorwurf, Zeugen gekauft zu haben, um ein paar Glatzköpfe in den Knast zu bringen, gibt mir schon seit Wochen sehr zu denken.

So long

Tessa

Hallo Tessa,
ich bin hier der gleichen Meinung wie du.
Jedoch sieht es doch so aus: Jemand behauptet, dass NAZIS eine unglaubliche Gräueltat begangen haben. Nach einer Berichterstattung in Presse, Funk und Fernsehen, die einer Vorverurteilung gleichkommt (Unschuldsvermutung hin - Presseberichte her) stellt sich heraus, dass an der Sache nichts ist.
Jetzt erinnert man sich daran, dass genau dies schon häufiger passiert ist: Ich erinnere an den Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge und an den Fall des behinderten Mädchens, das behauptet hatte, NAZIS hätten ihr ein Hakenkreuz auf die Stirn gekratzt (Sie war es selber, wie sich später herausstellte)

Wenn so etwas häufiger vorkommt, dann entsteht in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass alle „schlimmen Dinge“ die den NAZIS zugeschrieben werden, gar nicht von diesen begangen wurden, sondern nur von der Presse erfunden wurde.
Es entsteht somit eine Gleichgültigkeit.

Na ja, ich hoffe, es ist nun etwas verständlicher geworden.

Gruß
HaWeThie

In meiner heutigen Zeitung steht die Nachricht, daß die Mutter des kleinen Joseph ein 4. Gutachten verlangt. Sie meint, beim 3. Gutachten sei das falsche Herz seziert worden.

Hallo,
irgendwie habe ich schon Verständnis. Die Frau hat ihr Kind verloren und steckt in einem großen Konflikt. Sie wird sich wohl den Vorwurf machen müssn, nicht genug aufgepasst zu haben. Dem kann Sie wohl am leichtesten aus dem Weg gehen, wenn sie versucht nachzuweisen, daß es sich nicht um eine natürliche Ursache handelt. Wie tief wird Sie fallen, wenn der endgültige (auch für sie selbst nicht mehr angreifbare) Beweis erbracht wird, daß es nur eine natürliche Ursache gab? Sie tut mir leid.

Das gehört wohl eher zum Brett Psychologie.

Gruß
Daniel

Insgesamt passt das ganze in das Psychologie Brett, aus zwei Gründen.
a) Die Mutter sucht einen Sündenbock, dazu gibt es eine Theorie von Allport, dass man sich dazu Aussenseiter der Gesellschaft sucht, die einem selbst total unähnlich sind und irgendwie aber auch greifbar („Massen“ von Nazis im Osten, entsprechende Berichterstattung in den Medien). Meist wird die Theorie allerdings andersherum angewandt, und ist meines Wissens auch aus der Rassismusforschung entwickelt worden; nämlich um Gründe für die Judenverfolgung im 3.Reich zu finden, bzw. Rassenhass in den USA.
b) Der Junge ist ohne Zweifel ertrunken, was auch immer die Ursache war. ES waren viele Menschen anwesend und dennoch hat keiner geholfen. Auch dafür gibt es psychologische Theorien, diesmal von Latané und Darley Bystandereffekte genannt.

  • Verantwortungsdiffusion: jeder schiebt die Verantwortung, Hilfe leisten zu müssen, auf den anderen, zB den Bademeister, so wird zumindest der Zeitpunkt der Hilfe verzögert.
  • Bewertungsangst, man hat Angst sich bei der Hilfeleistung zu blamieren, er überlegt eine Zeitlang zB. da treibt ein Kind kopfunter im Wasser, wenn ich jetzt aber versuch ihn zu retten, übt er wahrscheinlich nur tauchen und ich steh dumm da
  • Pluralistische Ignoranz: Man nimmt sich die anderen umstehenden als Vergleichsobjekte. Wenn man nun zweifelt, ob die Situation ernst ist, schaut man sich die anderen an, die ebenfalls nach Vergleichsobjekten suchen (also noch kognitiv beschäftigt sind). Da diese ebenfalls nichts tun (eigentlich ja nur, weil sie auch noch beschäftigt sind) denkt man sich, es sei wohl nicht nötig einzugreifen.
    Also dauert es erst eine Ewigkeit bis wirklich jemand eingreift und dann kann es schon zu spät sein.
    wer mehr dazu sucht, kann in psychologischen Literaturdatenbanken unter social inhibition nachschauen.

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Keine Hilfeleistung (?)
Hallo Susanne,

Deine Abhandlung ist ja wirklich umfangreich. Aber ich habe neulich mal einen Bericht gesehen gehabt, in der ein (Gerichts-?)mediziner erklärt hat, daß der Junger vermutlich wegen irgendeines sehr, sehr selten auftretenden Phänomens (habe es nicht mehr ganz im Kopf - aber vielleicht kann man bei Interesse mal unter Medizin nachfragen) klammheimlich und ohne, daß man irgendein „Überlebenskampf“ hätte sehen können einfach untergegangen ist. Wenn das wahr wäre, brauchen wir wohl alle uns nicht darüber aufzuregen, daß keiner geholfen hat. Denn wenn man nicht, vorausgesetzt, man bewacht den Kleinen nicht gerade ausdrücklich, nicht erkennen kann, daß der gerade ertrinkt, wer soll dann darauf aufmerksam werden?
Ich persönlich fände es schön, wenn neben der Mutter (mit ihrem berechtigtem Schmerz, keine Frage) auch der Rest der Welt mit ihren Verurteilungen egal in welcher Form etwas vorsichtiger wären. Keiner kann wirklich genau sagen, was passiert ist.

Grüße,
Snoef

Hallo Snoef,

Deine Abhandlung ist ja wirklich umfangreich. Aber ich habe
neulich mal einen Bericht gesehen gehabt, in der ein
(Gerichts-?)mediziner erklärt hat, daß der Junger vermutlich
wegen irgendeines sehr, sehr selten auftretenden Phänomens
(habe es nicht mehr ganz im Kopf - aber vielleicht kann man
bei Interesse mal unter Medizin nachfragen) klammheimlich und
ohne, daß man irgendein „Überlebenskampf“ hätte sehen können
einfach untergegangen ist. Wenn das wahr wäre, brauchen wir
wohl alle uns nicht darüber aufzuregen, daß keiner geholfen
hat. Denn wenn man nicht, vorausgesetzt, man bewacht den
Kleinen nicht gerade ausdrücklich, nicht erkennen kann, daß
der gerade ertrinkt, wer soll dann darauf aufmerksam werden?

Vor einigen Monaten, als der Fall akut war und die Diskussion an gleicher Stelle tobte, wies ich auf den Badetod hin. Regelmäßig sterben jedes Jahr Kinder in Schwimmbädern daran. So selten ist das nicht einmal.
Das Kind hat eine Herzinsuffzienz, es wird ohnmächtig, gleitet einfach unter Wasser und ertrinkt.
Selbst wenn du einen solchen Badetod beobachtest, bekommst du als Laie nicht mit, dass da gerade ein Mensch stirbt.

Grüße,
Carlos