Dissoziation - 'Defekt' vs. Meta-Ebene

Hallo,

ich habe bis vor kurzem Dissoziation immer in Verbindung mit psychischen Störungen lt. ICD-10 aufgefasst. Ich weiß, dass dort dissoziative Störungen nicht von Konversionsstörungen getrennt werden. Mir ist ziemlich klar was Dissoziation im Sinne einer Störung bedeutet, wie Verlust persönlicher Identität, mehrere Persönlichkeitszustände u. a. Ausprägungen.

Nun habe ich vor kurzem Dissoziation als Begriff für ein „Sich-von-Außen-betrachten“ erklärt bekommen, war im Zuge eines Seminars.

Ich wollte mich in Wikipedia schlau machen, bin mir aber noch nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe. Dort wird Dissoziation lange als psychische Störung beschrieben, und am Ende kurz auf Dissoziation als therapeutische Technik eingegangen -> eben weg vom identifizierten Erleben auf eine Meta-Position.

Mir ist nicht klar inwieweit diese beiden Verwendungen des Begriffes tatsächlich etwas miteinander zu tun haben. Anders ausgedrückt: Ich habe Dissoziation immer in Verbindung mit Störung gesehen, aber es scheint auch durchaus im positiven Sinn ein Werkzeug zu sein, nur wo ist die Grenze, ab der es dann als Krankheit zu bezeichnen ist?

Danke vorab für klärende Beiträge

fliegerbaer

Hallo,

Ohne Garantie auf Richtigkeit:
Der metaphysische Begriff der Dissoziation bedeutet wohl, dass man eine Perspektive außerhalb des eigenen Ichs einnimmmt. In diesem Zustand ist man sich ja seiner ganzen Bewusstseinsinhalte trotzdem gewahr. Nur eben als eine Art Beobachter seines eigenen Erlebens.

Bei einer Dissoziation im psychologischem Sinne geht es um eine Abspaltung von bewussten Inhalten. Man ist sich diesen Inhalten also nicht mehr gewahr. Hier wird auch keine Perspektive außerhalb des Ichs eingenommen.

Die beiden Begriffe haben meines Erachtens nicht das geringste miteinander zu tun.

Guten Tag,

ich habe bis vor kurzem Dissoziation immer in Verbindung mit
psychischen Störungen lt. ICD-10 aufgefasst. Ich weiß, dass
dort dissoziative Störungen nicht von Konversionsstörungen
getrennt werden.

Der ICD-10 betrachtet das Phänomen der Dissoziation dort - ausdrücklich - im Sinne einer Störung. Also als von der Norm abweichendes Verhalten, unter dem der Betroffene leidet.

Ich wollte mich in Wikipedia schlau machen, bin mir aber noch
nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe. Dort wird
Dissoziation lange als psychische Störung beschrieben, und am
Ende kurz auf Dissoziation als therapeutische Technik
eingegangen -> eben weg vom identifizierten Erleben auf eine
Meta-Position.

Mir ist nicht klar inwieweit diese beiden Verwendungen des
Begriffes tatsächlich etwas miteinander zu tun haben. Anders
ausgedrückt: Ich habe Dissoziation immer in Verbindung mit
Störung gesehen, aber es scheint auch durchaus im positiven
Sinn ein Werkzeug zu sein, nur wo ist die Grenze, ab der es
dann als Krankheit zu bezeichnen ist?

Dissoziation ist zunächst nur ein Phänomen. Erst der Kontext des Auftretens macht daraus möglicherweise eine Diagnose. Neutral wird unter Dissoziation zunächst die Abspaltung von Emotionen, der Wahrnehmung des Körpers, der Umwelt verstanden. Das kann unbewusst oder bewusst erfolgen. Auch unter Meditation können dissoziative Zustände erreichen und lassen sich auch gezielt ansteuern. Da der Zustand als solcher auch eine Schutzfunktion hat, ist er nicht nur in der therapeutischen Arbeit hilfreich.

Die Grenze zur „Krankheit“ ist (s.o.) dann erreicht, wenn Dissoziation für den Betroffenen nicht steuerbar ist und der Leidensaspekt hinzu kommt.

MfG

Schröder

Hallo,

vielen Dank für die Antwort.

Es ist also in beiden Fällen wirklich derselbe psychische Vorgang gemeint, der unter bestimmten Umständen bzw. Ausprägungen eben zur Krankheit werden kann.

Ich bin jetzt nicht direkt vom Fach, eher jahrzehntelang betroffen, also würde mich noch interessieren, ob die Dissoziation als Therapiemethode neueren Datums ist oder bereits ein „alter Hut“. Denn dass ich erst unlängst darauf aufmerksam geworden bin, und Wikipedia der Sache auch nur einen kleinen Absatz widmet, macht mich stutzig.

Danke nochmals
fliegerbaer

Hallo fliegnbär,

ich hab etwas gezögert mit Antwort, weil es ein sehr komplexes Thema ist und mir bloße Andeutungen daher zu riskant waren.

Mir ist nicht klar inwieweit diese beiden Verwendungen des Begriffes tatsächlich etwas miteinander zu tun haben.

Sie haben!
Um hinten anzufangen: Das Verfahren kommt in der sog. PITT (Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie) zum Zuge, einer von Luise Reddemann entwickelten Kurzzeitmethode in der Traumatherapie. Dort werden verschiedene imaginative und auch eben dissoziative Verfahren eingesetzt um dem Traumapatienten (nicht nur solchen mit einer DIS) - kurz gesagt - Erholungspausen zu ermöglichen, in denen dann erleichtert Therapiearbeit gemacht werden kann.

Ich stehe dem Verfahren sehr kritisch gegenüber (daher das Zögern). Nicht weil es nicht funktioniert oder nicht effizient ist, sondern weil es öffentlich propagiert wird. Es gibt sogar ein Handbuch dazu. Das birgt die Gefahr, daß diese äußerst riskanten Verfahren in ungeschulte Hände geraten können.

Literatur dazu:
ISBN 3608890343 Buch anschauen
ISBN 3608891056 Buch anschauen

Die Dissoziation, in der ausgeprägtesten Form eben die DIS (Dissoziative Identitätsstörung, die in der therapeutischen Praxis immer noch häufig einen mißlichen Umgang erfährt), ist eine entfernte Verwandte der /t/kompensieren-oder-sublimieren/1984052/4

Im Prinzip ist Fähigkeit zur Reflexion (hier als philosophischer Terminus gemeint) der Anfang dieser Fähigkeit. Das Denken kann „rekursiv“ sein: sich auf sich selbst beziehen, bzw. sich selbst zum Objekt haben. Aristoteles bestimmt die Philosophie (philosophia prima) als „Denken des Denkens“. Weiterhin kennt jeder im Alltagsdenken die Fähigkeit, über seine Situation oder sein Handeln eine „Vogelperspektive“ einzunehmen, aus der er neue Wege der Beurteilung und daraus sich ergebender Handlungstrategien gewinnen kann. In der Konfliktberatung und generell im Konfliktmanagement spielt das eine bedeutende Rolle.

Daher kommt die Metapher der Reflexions-„Ebene“ oder anders auch der „Meta-Ebene“.

Ebenfalls in diesen Themenkomplex gehört u.a. auch die Schauspielkunst, und die Erfindung des Theaters überhaupt: Die „Bühne“ ist eine Reflexions- oder Meta-Ebene, eine „vermittelte“ Ebenes, zu Situationen des unmittelbaren Erlebens. In der aristotelischen Interpretation spielt hier der Begriff der Katharsis (qua „Reinigung“, Befreiung") eine wesentliche Rolle, die ebenfalls später in die Psychotherapie Eingang gefunden hatt. Vor ein paar Tagen war übrigens das ein threadfremdes Seitenthema im Esoterikbrett: → /t/geistheilerin-dagmar-kuhnert-aus-meersburg/684695…

Gruß
Metapher

Die Dissoziation, in der ausgeprägtesten Form eben die DIS
(Dissoziative Identitätsstörung, die in der therapeutischen
Praxis immer noch häufig einen mißlichen Umgang erfährt)

Danke wieder einmal an dich, Metapher. Nicht nur für den von mir hier nochmal unterstrichenen Part.

Grüße
fliegerbaer