Ansprache von Bundespräsident Dr. Thomas Klestil vor dem Europäischen Parlament am 12. April 2000 in Straßburg
(auszugsweise)
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Wir dürfen nicht zögern, gegen jede Form von Radikalisierung und Polarisierung aufzutreten. Und wir müssen uns jenen entschlossen entgegenstellen, die versuchen, durch eine opportunistische, populistische Politik die Ängste und Sorgen der Menschen zu schüren, um politisches Kapital daraus zu schlagen. …
Die Zweite Republik war von Anfang an von einem starken Bekenntnis der Österreicher zu ihrem Staat geprägt und von ihrer Überzeugung getragen, sich nie wieder von Nationalismus, Extremismus und Xenophobie verführen zu lassen.
Heute leben rund 800.000 Ausländer in unserem Land – ungefähr zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Österreich hat in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt eine Million Menschen aufgenommen und integriert. Wir haben damit – im Verhältnis zur Größe unseres Landes – mehr Flüchtlingen Zuflucht geboten als jedes andere Mitgliedsland der Europäischen Union.
Ich erinnere an die Flüchtlingswellen 1945 aus dem Osten, 1956 aus Ungarn, 1968 aus der Tschechoslowakei sowie im vergangenen Jahrzehnt aus dem ehemaligen Jugoslawien. Dazu kamen noch viele Menschen aus anderen Ländern. Auch jüdischen Emigranten aus der früheren Sowjetunion hat Österreich geholfen, nach Israel und in andere Länder zu gehen oder bei uns zu bleiben.
Sicherlich hat es – was unsere jüngere Vergangenheit betrifft – auch viele Versäumnisse gegeben, denen wir uns heute stärker bewusst sind. So möchte ich nicht meine Betroffenheit darüber verbergen, dass Österreich seine 1938 vertriebenen jüdischen Mitbürger nicht – oder erst viel zu spät – zur Rückkehr eingeladen hat. Gerade sie haben oft, trotz ihres furchtbaren Schicksals, eine tiefe Liebe zu ihrer früheren Heimat bewahrt.
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Als Bundespräsident bin ich aber auch fest entschlossen, ungerechtfertigte Kritik an Österreich und an seinen Menschen mit Nachdruck zurückzuweisen. Es ist in den vergangenen Wochen viel gesagt und viel geschrieben worden, das Österreich als Zerrbild und nicht den Tatsachen entsprechend darstellt – sei es aus Unkenntnis oder aus Oberflächlichkeit.
Ich appelliere daher an die politisch Verantwortlichen und auch an die Medien in der Europäischen Union – gerade im Geiste der europäischen Werte, die zu Recht als Fundament des europäischen Einigungswerkes betrachtet werden –, auch das Gebot der Objektivität und das Gebot der Fairness nicht aus dem Auge zu verlieren.
Ich glaube, dass es im Interesse aller Mitgliedstaaten liegt, sich dafür einzusetzen, dass ein klares Bild der realen Situation in Österreich gewonnen, Kritik abgebaut, das Gemeinsame gesucht und im Wege des Dialogs zur baldigen Überwindung der für alle schwierigen Situation beigetragen wird.
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Österreich ist eine stabile Demokratie und ein funktionierender Rechtsstaat.
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Die Situation, in der sich Österreich derzeit befindet, ist für mein Land und vor allem für seine Menschen unangenehm und folgenschwer. Sie ist jedoch auch unangenehm und folgenschwer für die anderen vierzehn Mitgliedsstaaten der Europäische Union.
Es gibt keine wie immer gearteten Anzeichen dafür, dass Österreich von seinem bisher beschrittenen Weg der parlamentarischen Demokratie und von den europäischen Werten abweicht.
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Wir Österreicher sind begeisterte Europäer und werden es auch bleiben! Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!
nachzulesen
http://www.hofburg.at/de/index.htm
Gruß Harald
