Hallo Christian,
du hast geschrieben:
"…daß es sich zwar um einen in einer idealen Welt vernünftigen
Vorschlag handelt, der jedoch in der Praxis m.E. untauglich
ist. Die Grundlagen der meisten Entscheidungen, die heutzutage
in der Politik getroffen werden, lassen sich nicht
„volkstauglich“ zusammenfassen.
Ich will Dir und anderen Diskussionsteilnehmer antworten, die skeptisch sind gegenüber der Vorstellung, dass das Volk als Souverän in der Entscheidungs-Praxis über konkrete gesetzliche Regelungen zumindest die gleiche Qualität hervorbringen kann wie die von ihm gewählten Parlamentarier.
Eine solche Skepsis führt meiner Ansicht nach zu einer grundsätzlichen Infragestellung der Demokratie-Idee, wie sie in aller Kürze im Artikel 20, 2 des Grundgesetzes formuliert wird:
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt.“
Also laut Grundgesetz ist das Volk, also sind alle wahl- und abstimmungsberechtigten Bürgerinnen und Bürger zusammengefasst als Gesamtbürgerschaft, der Souverän in dem demokratisch verfassten Staatsgebilde Deutschland.
Wir tragen also alle mit die Verantwortung für unser Staatswesen.
Wenn man der Ansicht ist, dass das Volk weiterhin - wie es bisher Praxis ist - nur wählen soll, weil es zu „dumm“ sei, über konkrete gesetzliche Regelungen zu entscheiden, dann muss man sich fragen, warum es dann wählen darf.
Denn bei der Wahl ist es doch viel schwieriger, eine rationale Entscheidung zu treffen, als bei einer Abstimmung über ein einzelnes Gesetz.
Bei der Wahl wird aus einer Anzahl von Parteien ein ausgewählt, der man seine Stimme gibt. Man entscheidet sich damit für eines der vielen komplexen Wahlprogramme (die unüberschaubar viele politische Entscheidungsvorhaben, die die Partei verwirklichen will, enthalten) und für eines der Personalangebots-„Paket“, die zur Wahl gestellt werden.
Wenn man da rational entscheiden will, muss man alle Wahlprogramme (die gesamten politischen Entscheidungsvorhaben aller Parteien) und alle Personalangebote genau kennen oder man schenkt aus Tradition oder Erfahrung einfach einer Partei (meist dem „kleineren Übel“) sein vertrauen.
Aber das letztere kann man auch (sogar besser überprüfbar) bei einer Volksabstimmung über eine konkrete gesetzliche Regelungen tun. Man entscheidet dann so, wie es die Partei seines Vertrauens empfiehlt.
Eine Wahl ist außerdem auch mit viel mehr Verantwortung verbunden, weil man indirekt auch die Exekutive mitwählt, die dann - ohne Korrekturmöglichkeit durch das Volk - für 4 Jahren die politische Herrschaft ausüben kann.
Also - wer dem Volkssouverän eine Abstimmung über eine einzelne konkrete gesetzliche Regelungen nicht zutraut, weil der Gegenstand der Volksabstimmung nicht „volkstauglich“ (wie Christian schreibt) zu machen sei, der sollte überprüfen, ob er ihn wählen lassen will oder besser eine andere politische Herrschaftsform anstreben sollte.
In seinem Beitrag vom 20.6.2006 spricht Ulf Elberling außerdem noch eine Hoffnung aus, deren Inhalt ich hier vertiefen will.
Es schreibt: „Ich habe Hoffnung, dass das Volk (nicht ausgrenzend gemeint) sich mehr für Politik interessiert und informiert, wenn es meint, dass es zu Sachfragen entscheiden kann.“
Ich will hierzu noch die Überlegung ins Gespräch bringen, ob diejenigen, die heute ein wenig oder auch viel mehr informiert sind über politische Kommunikations- und Entscheidungsprozesse als die große Mehrheit der StaatsbürgerInnen, die ihren gesellschaftlichen Beitrag hauptsächlich im alltäglichen Arbeitsprozess im Produktionsbereich des Wirtschaftsleben erbringen, einem Irrtum unterliegen.
Ich will dem Christian und den anderen, die eine ähnliche Position wie er vertreten, die Frage stellen, ob es nicht ein Irrtum sein kann, wenn man von der heutzutage gewinnbaren Erfahrung einer weitverbreiteten politischen Uninteressiertheit und deshalb auch Uninformiertheit der Menschen, die wenig Zeit außerhalb ihrer Arbeit zur Verfügung haben, den Schluss für die Zukunft zieht, der besagt, diese Uninformiertheit würde in diesem Umfang auch dann bestehen bleiben, wenn diese Menschen in einer Volksabstimmung selbst mit entscheiden können.
Heute können sie über politisch wichtige, vom Gesetzgeber zu beschließende Fragen nicht mitentscheiden, deshalb ist es doch rational, dass sie in der kurzen („Frei-„) Zeit, die ihnen verbleibt, nicht ihr Seelenleben mit Problemen belasten, zu deren Beantwortung sie gar nicht befugt sind.
Ganz anders sieht die Sache vielleicht aus, wenn der Gesetzgeber neben dem gewählten Parlament, auch allen wahl- und abstimmungsberechtigten StaatsbürgerInnen die Gesetzgebungskompetenz in der Weise überträgt, dass sie jederzeit auf dem Wege der dreistufigen Volksgesetzgebung eine Gesetzesinitiative ergreifen und gemeinsam als Gesamtbürgerschaft mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen beschließen können, ob das Gesetz Rechtverbindlichkeit erlangt oder nicht.
Dann wird wahrscheinlich ein Grossteil derjenigen, die durch ihre Beteiligung Verantwortung für die zu treffende politische Entscheidung übernehmen wollen, sich vor ihrer Entscheidung auch gründlich informieren wollen - und es auch können, wenn das Volksabstimmungs-Gesetz so beschaffen ist, dass es möglich wird, die Massenmedien (auch die Bildzeitung u. ä. Boulevard-Blätter) zur freien und gleichberechtigten Information und Diskussion der Pro und Kontra Positionen zu verpflichten.
Die Massenmedien können dann zumindest in solchen Fällen, in denen über Volksgesetzgebungsvorgänge zu informieren ist, ihre für die Gesundheit des Gesellschaftsorganismus so wichtige Informations-Funktion ohne allzu große Manipulationen durch Eigentum, Geld und Macht erfüllen.
Und für diejenigen aus der großen Masse der arbeitenden Bevölkerung, die sich beteiligen wollen, ist es dann ja keine Zeitverschwendung mehr, wenn sie sich in der Regel etwa ein Jahr lang über die Vorzüge und Nachteile einer gesetzlichen Reglung und über die voraussichtlichen Folgen einer Entscheidung, für die sie mit Verantwortung tragen, vor dieser Entscheidung gründlich in der verbleibenden Freizeit informieren.
Deshalb ist der Punkt d) in den Kernpunkten der Petition (die „Medienbedingung“)so wichtig.
Kann man den Unterschied, den ich hier versucht habe darzustellen, erkennen?
Ist es möglich geworden, nachzuvollziehen, dass es ein Irrtum sein kann, die Erfahrungen aus der Vergangenheit und der Gegenwart so ohne weiteres in eine Zukunft mit ganz anderen Rahmenbedingungen hinein zu verlängern?
Wenn das gelungen ist, würde ich mich sehr freuen.
Herbert