Strafbarkeit setzt zunächst einmal voraus, dass der objektive Tatbestand erfüllt wird. Darunter versteht man alles, was sich nicht nur im Kopf des Täters abspielt (Wissen und Wollen spielen sich im Kopf ab). Der Diebstahl-Paragraf lautet so:
„Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ (§ 242 I StGB)
Der objektive Tatbestand des Diebstahls setzt also voraus, dass der Täter einem anderen eine fremde bewegliche Sache wegnimmt. Das Tatbestandsmerkmal, auf das es in unserem Beispiel ankommt, ist die Wegnahme.
Wann nimmt jemand etwas weg? Immer dann, wenn jemand fremden Gewahrsam (=die tatsächliche Herrschaft) an der Sache bricht und neuen Gewahrsam begründet. So lange eine Perlenkette im Haus der reichen Witwe liegt, hat diese Gewahrsam. Steigt ein Dieb ein und nimmt die Kette an sich, so bricht er den Gewahrsam der Witwe, denn diese hat die Kette ja nicht mehr. Der Dieb hat sie aber, also hat er neuen Gewahrsam.
Nun müssen wir uns genauer ansehen, was es bedeutet, fremden Gewahrsam zu brechen. In dem Witwenfall war das ganz einfach und klar. Es gibt aber kompliziertere Fälle, und darum muss man sich die Bedeutung von „Bruch fremden Gewahrsams“ genauer ansehen. Fremder Gewahrsam wird gebrochen, wenn der Gewahrsam des (berechtigten) Gewahrsaminhabers gegen dessen Willen aufgehoben wird.
Kleine Kontrollüberlegung: A will B etwas schenken und sagt ihm, er möge es sich aus dem Nebenzimmer holen. Kann das Diebstahl sein? Nein. Warum nicht? Weil der Gewahrsam an der geschenkten Sache nicht gebrochen wird, denn As verliert seinen Gewahrsam ja nicht gegen seinen Willen. Das ist also keine Wegnahme, anders als im Beispiel der reichen Witwe, die damit nicht einverstanden war.
Zwischenergebnis: Zum objektiven Tatbestand des Diebstahls gehört, dass der Gewahrsamsinhaber (oft ist das der Eigentümer) mit dem Gewahrsamswechsel nicht einverstanden ist. Ist er einverstanden, liegt keine Wegnahme vor.
Nun zum subjektiven Tatbestand, der auch immer Voraussetzung für die Strafbarkeit ist. Es geht also nun um das, was sich im Kopf des Täters abspielt. Er braucht u.a. den für Diebstahl erforderlichen Vorsatz zum Zeitpunkt der Handlung, die (vielleicht) eine Wegnahme ist. Hat er den Vorsatz nicht, ist er straffrei. Vorsatz bedeutet vereinfacht gesagt: Man weiß und man will, was man da tut. Vollendeter Diebstahl setzt also u.a. voraus, dass man weiß und will (hier reicht billigende Inkaufnahme), dass ein Gewahrsamswechsel gegen den Willen des Gewahrsamsinhabers stattfindet.
Daraus ergeben sich folgende Konstellationen:
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Gewahrsamsinhaber will den Gewahrsamswechsel nicht, und Täter weiß das: vollendeter Diebstahl
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Gewahrsamsinhaber will den Gewahrsamswechsel nicht, Täter denkt aber, er sei einverstanden: Der objektive Tatbestand inkl. des Nichtwollens des Gewahrsamswechsels ist gegeben, aber der Täter weiß das nicht. Darum scheidet Diebstahl aus. Es mangelt am Vorsatz. Wenn sich im Fall des Geschenks von A an B der B nur verhört hätte, A also gar nicht einverstanden war, dann hätte B sich geirrt. Er wollte aber trotzdem niemandem etwas wegnehmen. Das kann doch nicht den Unterschied zwischen Strafbarkeit und Straflosigkeit machen. So sieht es auch das Gesetz, wenn es sagt:
„Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich.“ (§ 16 I S. 1 StGB)
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Gewahrsamsinhaber will den Gewahrsamswechsel und der Täter weiß das: unproblematisch. Das ist ja der Geschenkfall in seiner Ursprungsfassung. Natürlich liegt hier keine Strafbarkeit vor.
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Gewahrsamsinhaber will den Wechsel, doch der Täter weiß das nicht: Das ist die spannendste Konstellation, und sie ist gar nicht sooooo selten, zumindest habe ich sie in der Praxis schon erlebt. Denn: Genau das ist immer der Fall bei sog. Diebesfallen. Um jemanden zu überführen, wird ihm eine Sache hingelegt, die er wegnehmen soll, während er sich unbeobachtet fühlt. Es handelt sich oft um Geld, das chemisch so behandelt wurde, dass es Flecken bei demjenigen verursacht, der das Geld anfasst. Die Flecken sind nicht abwaschbar, der Täter ist überführt. Das ist kein bloßer Krimi, das wird wirklich so gemacht. Nun haben wir eine eigenartige Konstellation: Wenn der Gewahrsamsinhaber das Geld bereitlegt, um einen Dieb zu überführen, dann will er ja gerade, dass der Dieb die Sache an sich nimmt. Es liegt also kein Gewahrsamsbruch vor, es fehlt am Nichtwollen. Und ohne dieses Nichtwollen ist ja schon der objektive Tatbestand von § 242 StGB nicht erfüllt. Dann hilft auch der entsprechende Vorsatz nichts mehr, ein vollendeter Diebstahl liegt nicht vor.
Nun einen kleinen Exkurs. Stell dir vor, A will B töten, doch die Tat misslingt, und B überlebt. Für Mord und Totschlag gehört es zum objektiven Tatbestand, dass ein Mensch getötet wurde. Das ist hier nicht der Fall, darum scheidet die Strafbarkeit wegen Totschlag und Mord aus. Man sieht aber auch sofort, warum A strafbar ist, nämlich wegen versuchten Totschlags oder versuchten Mordes. Die Voraussetzungen für Versuchsstrafbarkeit sind vereinfacht gesagt diese:
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Der objektive Tatbestand wurde nicht (vollständig) erfüllt.
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Der Täter hat aber den subjektiven Tatbestand erfüllt, er hatte also den Willen und das Wissen, er wollte den objektiven Tatbestand erfüllen.
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Der Täter hat zu der Tat angesetzt, sie also auch ganz praktisch versucht und sie sich nicht nur im Kopf ausgemalt oder nur Vorbereitungshandlungen getroffen (Kauf eines Messers, das später als Tatwerkzeug dienen soll).
Nun zurück zum 4. Diebstahl-Fall. Die eben genannten drei Voraussetzungen liegen hier: Diebstahl ist objektiv nicht gegeben, weil es an der Wegnahme fehlt. Der Täter glaubte aber an Umstände, die, wenn sie wirklich vorgelegen hätten, den Diebstahlstatbestand erfüllt hätten. Er wusste und wollte den Diebstahl also auch (und hatte im Übrigen auch die in § 242 StGB genannte Absicht, sich die Sache rechtswidrig zuzueignen; darauf gehe ich hier zur Vereinfachung nicht weiter ein). Und auch 3. Ist der Fall: Der Täter hat nach der Sache gegriffen, er wollte sie wegnehmen. Ergebnis: Strafbarkeit wegen versuchten Diebstahls.
Und beim nächsten Mal behandeln wir die Frage, wieso es Diebstahl und nicht Unterschlagung ist, wenn man in einer Bahnhofshalle einen Geldschein findet und an sich nimmt, um ihn zu behalten.