Echtheit von Geschichte

Wir sollten uns in Geschichte mit dem Thema Authentizität von Geschichte unter dem Aspekt moderner Gehirnforschung befassen. Sprich: Ist die Geschichte echt oder gaukelt uns das Gehirn nur etwas vor? Was kann man glauben und was ist nur Einbildung? Antworten bitte mit Quellenangabe :wink:

L.G.

Hi.

Was kann man glauben und was ist nur
Einbildung? Antworten bitte mit Quellenangabe :wink:

Glauben kann man alles.

Die wissen:
Oliver Sachs, Vilayanur Ramachandran und noch ne Bibliothek voll.

Gruß

Balázs

Gehirn und Welt
Hi fengarisowner.

Wir sollten uns in Geschichte mit dem Thema Authentizität von
Geschichte unter dem Aspekt moderner Gehirnforschung befassen.

Das ist eine originell zusammengewürfelte Kombi von Bereichen (Geschichte vs. Gehirnforschung). Ob diese Fragestellung aber wirklich sinnvoll ist, bezweifle ich ein bisschen.

Sprich: Ist die Geschichte echt oder gaukelt uns das Gehirn
nur etwas vor?

Was heißt „Ist Geschichte echt“? Die Frage stellt sich auch ohne Bezug auf die Wirklichkeitstreue zerebraler Repräsentationen. „Geschichte“ ist als selektive Aufzeichnung von historischen Ereignissen nie „echt“ im Sinne einer Eins-zu-eins-Entsprechung. Die wahre, also „echte“ Geschichte ist unendlich komplex und voller Kontingenzen (in etwa: Zufälligkeiten), während die in Büchern vermittelte Geschichte hochgradig selektiv und interpretativ ist.

Die hinter dem Schulthema verborgene wirklich sinnvolle Frage lautet doch: wie echt ist das durch die Gehirnfunktionen repräsentierte Bild von der Welt?

Beantwortet man diese Frage, dann weiß man auch, wie „echt“ Geschichte ist, die sich in der Welt ereignet.

Kurze Rede, langer Sinn: das Gehirn repräsentiert die Welt nicht eins-zu-eins, sondern es strukturiert mit Hilfe abstrakter Kategorien eine Flut von Sinnesdaten, die als elektrische Ladungen den Weg über Rezeptoren, Nervenbahnen und Hirnzentren zurücklegen, um dann - über das Wie scheiden sich die Geister der Wissenschaft - in irgendeiner Weise in das Bewusstsein zu gelangen. Schon von daher ist klar, dass das Bild der Welt, was im Bewusstsein entsteht, mit der „wirklichen“ Welt herzlich wenig zu tun hat. Die auslösenden Reize sind immer quantitativer Natur (z.B. Schwingungen), die im Bewusstsein aber als Qualität erscheinen (z.B. Farbe, Licht). Man kann davon ausgehen, dass die im Bewusstsein erhscheinenden Eigenschaften der Welt nicht ihre wahren Eigenschaften sind, sondern vom Gehirn und Bewusstsein konstruierte.

Soviel in der gebotenen Kürze zur „Echtheitsfrage“ in puncto Repräsentation der Welt im Gehirn.

Die Nutzanwendung dessen auf „Geschichte“ im Sinne aufgezeichneter Geschichte ist einfach. Ja, wir können ihr glauben (vorausgesetzt, sie ist nicht erlogen und mit der genannten Einschränkung der Selektivität), aber die „Welt“, in der sie sich ereignet (hat), ist durch das menschliche Gehirn strukturiert.

Chan

Hallo,

die Brücke zur Gehirnforschung bekomme ich auch nicht gebaut, aber zum Thema Geschichtsschreibung kann man eventuell noch ergänzen, dass es eben verschiedene Perspektiven und Schwerpunkte gibt. Im schulischen Geschichtsunterricht greift man fast ausschließlich auf die Geschichte der zeitlichen Geschehnissen zurück (was ist wann passiert und eventuell wird noch das Warum angekratzt). Es gibt aber noch die Geschichte von unten, die Geschichte, die nicht nach Jahreszahlen, sondern nach einem bestimmten Thema sortiert sind oder nach Personen.

Viele Grüße

Hi Chili.

aber zum Thema Geschichtsschreibung kann man eventuell noch
ergänzen, dass es eben verschiedene Perspektiven und
Schwerpunkte gibt.

Selbstverständlich. Ich hatte das in dem allgemeinen Begriff „Selektivität“ zusammengefasst. Vielleicht ist der Hinweis noch angebracht, dass auch zu beachten ist, wer Geschichte betreibt und präsentiert. Die Kirchengeschichtler mit konfessioneller Bindung z.B. neigen stark dazu, die Geschichte der Kirche in geschönter und stark manipulierter Form darzustellen (z.B. die Liste der ersten Bischöfe von Rom, die Gestalten als faktisch präsentiert, die historisch null nachgewiesen sind). Hier könnte man eher ironisch das Verhältnis christlicher Gehirne zur Geschichtswissenschaft hinterfragen.

Ich habe übrigens einen Brückenschläger (oder -schlager?) zwischen Hirnforschung und Geschichte entdeckt, und zwar den berüchtigten Hirnforscher Wolf Singer (berüchtigt wegen seiner Thesen zur Willensfreiheit). Seine Ausführungen scheinen mir nicht im Widerspruch zu meinen laienhaften Überlegungen zu stehen.

http://www.druckversion.studien-von-zeitfragen.net/S…

Zitat:

„Was kann dies für die Erforschung der Geschichte bedeuten? Nicht nur die Taten, sondern auch die Geschichten, die Menschen erfinden, machen Geschichte. Zur Geschichte gehören nicht nur die Wirklichkeiten, die aus der Dritten-Person-Perspektive behandelt werden können, die Vorfälle selbst, sondern auch die Phänomene, die erst durch die reflektierende und konstruktivistische Tätigkeit unserer Gehirne in die Welt kommen. Auch wenn diese Wirklichkeiten erst über kognitive Prozesse entstehen, also mentale beziehungsweise soziale Realitäten sind, so sind sie deshalb nicht weniger geschichtsbestimmend als die konkreten Vorfälle.“

Chan

Hallo Ch’an,

ja, das mit der konstruierten Wirklichkeit ist interessant und sehr menschenypisch, eigentlich…

Viele Grüße

Kant

ja, das mit der konstruierten Wirklichkeit ist interessant und sehr menschentypisch, eigentlich…

Kant hatte ohne neurologische Kenntnisse die Realität schon vor über zweihundert Jahren als mentales Konstrukt bezeichnet, natürlich nicht im solipsistischen Sinne, sondern im Sinne einer Strukturierung der Sinnesdaten durch formale Kategorien, die nicht Teil der Wirklichkeit (das An-sich) sind (z.B. Zeit, Raum, Kausalität usw.).

Chan

Was blieb?
Hi.

Kant hatte ohne neurologische Kenntnisse die Realität schon
vor über zweihundert Jahren als mentales Konstrukt bezeichnet,

Und von ihm ist nur die erkenntnisstiftende Rolle unseren angeborenen Denkstrukturen übrig geblieben (und das auch nicht so wie er diese für a priori in phylogenetischen Sinne postulierte sonder nur in ontogenetischer).

Das ist sein unvergessliches Verdienst war ja epochemachend gewesen aber sonst hat er sich (fast) über all geirrt.
Keine Rede von kopernikanischer Wende.
Er war ein genialer Naturphilosoph leider hat er von der Naturwissenschaften kaum Ahnung er hat nicht einmal Newton richtig verstanden.

Gruß.

Balázs

Mega viel
Hi Balazs.

Kant hatte ohne neurologische Kenntnisse die Realität schon
vor über zweihundert Jahren als mentales Konstrukt bezeichnet,

Und von ihm ist nur die erkenntnisstiftende Rolle unseren
angeborenen Denkstrukturen übrig geblieben

Wieso „nur“? Allein dafür hat Kant ein Denkmal verdient.

und das auch nicht so wie er diese für a priori in phylogenetischen Sinne postulierte sonder nur in ontogenetischer.

Das stimmt so nicht. Kant beschrieb die Entwicklung der Erkenntnisstrukturen sowohl unter dem ontogenetischen wie phylogenetischen Aspekt. Gerade diese Parallelisierung war sein Markenzeichen.

Da aber Kant nicht direktes Thema des Threads ist, sollten wir diesbezügliche Diskussionen für einen spezielleren Thread aufheben.

Das ist sein unvergessliches Verdienst war ja epochemachend
gewesen aber sonst hat er sich (fast) über all geirrt.

Macht aber nichts. Geniale Pioniere irren sich viel, ihr Genius besteht aber darin, in ein, zwei besonderen Hinsichten die Kultur um einen Quantensprung vorangebracht zu haben. Das ist bei Kant der Fall.

Hier ist ein (unvollständiger) Überblick über die Wertschätzung Kants im 20. Jhd.:

http://de.wikipedia.org/wiki/Immanuel_Kant

Zitat:

"Kant ist auch in der Gegenwart der am meisten rezipierte Philosoph.

(…)

Im 20. Jahrhundert findet man keine Kant-Schulen mehr, aber dennoch ist (fast) jede Philosophie eine Auseinandersetzung oder ein Dialog mit Kant. Dies reicht von Charles S. Peirce über Georg Simmel, Edmund Husserl, Karl Jaspers, Max Scheler, Martin Heidegger, Ernst Bloch bis Theodor Adorno und Karl Popper ebenso wie in der analytischen Philosophie zu Willard Van Orman Quine mit seinen Kant Lectures und Peter Frederick Strawson mit einem viel beachteten Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft. Der Erlanger Konstruktivismus lehnt sich eng an Kant an. Auch bei Karl-Otto Apels Ansatz zur Transformation der Transzendentalphilosophie oder bei Carl Friedrich von Weizsäcker macht Kant einen wesentlichen Bezugspunkt aus. Lyotard bezieht sich in seiner Ästhetik auf Kants Begriff des Erhabenen. In der 2. Hälfte des Jahrhunderts bildete sich immer mehr eine Gruppe von Philosophen heraus, die ihre philosophischen Positionen wieder unmittelbar im Sinne kritischer Rationalität an Kant anknüpften, wie Helmut Holzhey, Dieter Henrich, Gerold Prauss, Norbert Hinske, Herbert Schnädelbach, Reinhard Brandt oder Otfried Höffe. Auch in den USA gibt es entsprechende Vertreter wie Paul Guyer und Henry E. Allison."

Zitat Ende.

Hinzufügen ließen sich so wichtige Fans wie Jürgen Habermas und Jacques Lacan.

Chan

Hi Ch’an

Kant hatte ohne neurologische Kenntnisse die Realität schon
vor über zweihundert Jahren als mentales Konstrukt bezeichnet,

Und von ihm ist nur die erkenntnisstiftende Rolle unseren
angeborenen Denkstrukturen übrig geblieben

Wieso „nur“? Allein dafür hat Kant ein Denkmal verdient.

Das stimmt er ist unsterblich.

und das auch nicht so wie er diese für a priori in phylogenetischen Sinne postulierte sonder nur in ontogenetischer.

Das stimmt so nicht. Kant beschrieb die Entwicklung der
Erkenntnisstrukturen sowohl unter dem ontogenetischen wie
phylogenetischen Aspekt. Gerade diese Parallelisierung war
sein Markenzeichen.

Nein. Er drückt sich hier unmissverständlich aus (leider tat er das nicht immer und überall:smile:
Kategorien ontogenetisch (erworben) das Gemüt (was das immer heißen mag)eindeutig Kategorien zu bilden phylogenetisch (a priori) und nicht weiter auflösbar.
Das stimmt nicht (unter anderen)wie wir wissen.

Da aber Kant nicht direktes Thema des Threads ist, sollten wir
diesbezügliche Diskussionen für einen spezielleren Thread
aufheben.

Ja das könnte man machen.

Ich wollte nur darauf hinweisen, dass wenn man sich auf irgendwas bezieht den Stand der heutigen Kenntnisse berücksichtigen sollte.

Morgen könnte das natürlich schon anderes sein, was ich hoffe:smile:
So wie ich vorher mit der Kausalität tat.

Das ist sein unvergessliches Verdienst war ja epochemachend
gewesen aber sonst hat er sich (fast) über all geirrt.

Macht aber nichts. Geniale Pioniere irren sich viel, ihr
Genius besteht aber darin, in ein, zwei besonderen Hinsichten
die Kultur um einen Quantensprung vorangebracht zu haben. Das
ist bei Kant der Fall.

Genau, ich bin mit ihm groß geworden und er bleibt für mich (und ich denke für uns alle) ein Gigant.

Gruß

Balázs