Ein paar Fragen rund um Volkswirtschaften

Liebe/-r Experte/-in,

anläßlich einer Diskussion unter Historikern bezüglich Interpretation von statistischen Daten sind ein paar allgemeine Fragen zum Thema Makroökonomie / Volkswirtschaft aufgetaucht, für deren Beantwortung uns derzeit das theoretische Fundament fehlt; entsprechend bitte ich um Hilfe.

  • Ist es für eine Volkswirtschaft gesamt gesehen besser, wenn der Reichtum möglichst gleichmäßig verteilt ist, oder wenn es hier Disparitäten gibt? (Mir ist bewußt, daß eine steigende Kluft zwischen Reich und Arm normalerweise als schädlich angesehen wird, allerdings werden hierfür normalerweise eher politische als wirtschaftliche Argumente herangezogen. Wie schaut es volkswirtschaftlich aus?)
  • Gibt es verläßliche Meßgrößen bezüglich Wohlergehen / allgemeinem Erfolg einer Volkswirtschaft für die vorindustrielle Zeit (vor 1800)? Wie aussagekräftig sind Werte wie z.B. Geburtenrate oder Lebenserwartung in diesem Zusammenhang?
  • Wie gut lassen sich (ebenfalls in vorindustrieller Zeit, d.h. vor Einführung konvertibler Währungen oder globalen Handels in großem Stil) verschiedene entfernte Volkswirtschaften miteinander vergleichen? Gibt es vergleichende Untersuchungen beispielsweise zur wirtschaftlichen Kraft Chinas im Vergleich zu Europa im Mittelalter?

Danke im Voraus für alle Antworten!

Lorenz

Hallo Lorenz,

  1. Einer Volkswirtschaft ist es relativ wurscht, wie der Reichtum verteilt ist. Für die Binnennachfrage ist es allerdings ganz sinnvoll, wenn die ärmeren Bevölkerungsschichten über eine gewisse Kaufkraft verfügen. Letztenendes handelt es sich hier aber um eine politische Frage, nämlich darum, wieviel der soziale Frieden in einem Land wert ist. Den Reichen nützt es relativ wenig, wenn ihnen irgendwann das Fell über die Ohren gezogen wird. Und das gilt auch bereits im niedrigschwelligen Bereich, wenn eine hohe Kriminalistätsrate zu allgemeiner Unsicherheit führt. In diesem Zusammenhang kann man dann auch nach den gesellschaftlichen Kosten sozialer Ungerechtigkeit fragen, wobei wir wieder bei der Volkswirtschaft wären.
  2. Die Geburtenrate könnte ein Indikator sein, sie war aber vor den Zeiten erfolgreicher Empfängnisverhütung immer recht hoch und scheint bei wachsendem Wohlstand (z.B. in den westlichen Industriegesellschaften) eher nachzulassen. Aussagekräftiger ist sicherlich die durchschnittliche Lebenserwartung. Diese lag (ohne die hohe Säuglingssterblichkeit einzuberechnen)bis noch vor ca. 200 Jahren (also natüprlich auch im europäischen Mittelalter) bei ungefähr 35 Jahren. Hauptsächliche Gründe: Krankheiten, Hungerkatastrophen, Kriege, Seuchen und bei Frauen das Kindbettfieber.
  3. Was die Vergleichbarkeit „entfernter“ Volkswirtschaften angeht, so bin ich für die vorindustrielle Zeit eher skeptisch. Es gibt zwar vergleichende Untersuchungen über Kultur und Wirtschaftsweise, seriöse Wohlstandsvergleiche sind mir nicht bekannt.

Beste Grüße

Dr. Matthias Meyn

Eine Ungleichverteilung dess Volkseinkommens bedeutet zugleich auch eine Konzentration von Marktmacht.
Im Modell der VWL ist die beste Angebots und Nachfragestruktur polypolistisch, da auf der Angebotsseite eine starker Wettbewerbdruck vorhanden ist. Ein steigen der Marktmacht bedeutet weniger Wettbewerb bishin zum Monopol, dadurch entfällt ein jeglicher Wettbewerb, der für ein funktionieren einer freien Marktwirtschaft elementar ist.
Aus diesem Grund gibt es die Kartellaufsicht um wettbewerbsmindernde Absprachen (Preis/Gebietskartelle) zu verhindern.

Zu denn anderen Fragen gibt es glaube ich keine Statistiken da die VWL eine relativ junge Wissenschaft ist.

Mit freundlichen Grüßen

Michael Wilberz

Die Fragen sind wohl eher etwas für Wirtschaftshistoriker, insofern kann ich leider keine qualifizierten Antworten geben (Bin selber im Bereich internationale Wirtschaftsbeziehungen tätig).

Allenfalls zur ersten Frage, ein qualitativer Hinweis auf die grundsätzliche Beziehung von Einkommensverteilung und Wohlstand:

Eine ungleiche Einkommensverteilung geht häufig mit einem überdurchschnittlichen Wirtschaftswachstum einher. Dies liegt zum Einen daran, dass weniger regulierte (weniger Umverteilung) Volkswirtschaften bisweilen mehr Anreize bieten, sich wirtschaftlich zu betätigen, zum anderen daran, dass es in einer dynamischen Volkswirtschaft stets Gewinner und Verlierer gibt. Ein „Durchsickern“ der volkswirtschaftlichen Wohlfahrtsgewinne nimmt in der Regel Zeit in Anspruch.

Im Ergebnis ist es durchaus möglich, dass in der schneller wachsenden Volkswirtschaft auch das Einkommensniveau der unteren Einskommensschicht höher ist als das Durchschnittseinkommen der weniger schnell wachsenden Volkswirtschaft mit ausgeglichenerer Einkommensverteilung. Mikroökonomisch muss das allerdings nicht bedeuten, dass die Geringverdiener der reichen Volkswirtschaft auch zufriedener sind als ein Bürger der armen Volkswirtschaft mit gleichem Einkommen. Der Zufriedenheitsgrad misst sich in der Regel eher am relativen Reichtum (sowohl zeitlich als auch gegenüber dem Nachbarn) als am absoluten Einkommensniveau.

Zu dem geschilderten Zusammenhang gibt es zahlreiche empirische Studien, die mir aber leider nicht im Eizelnen bekannt sind.

Viele Grüße,

Meister Bien

Hallo retour,

herzlichen Dank für die Antwort!
Gibt es bezüglich der erwähnten vergleichenden Untersuchungen von Kultur und Wirtschaftsweise zufälligerweise Quellenangaben (zwecks Ausheben bzw. Zitat)?

Herzlichen Dank und ebenfalls beste Grüße,

Lorenz Intichar

Hallo Lorenz,
Ihre Ergänzungsfrage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Eine global vergleichende Wirtschaftsgeschichte ist leider immer noch Zukunftsmusik. Schauen Sie mal in Folgendes:
Wallerstein, Immanuel, Das moderne Weltsystem II und III, Wien 1998 bzw. 2004.

Beste Grüße

Dr. Matthias Meyn

…und wenn Sie noch mehr brauchen (und Englisch können):

Frank, Andre Gunder: ReOrient: Global Economy in the Asian Age. Berkeley 1998
Jones, E. L.: The European Miracle. Environments, economies and geopolitics in the history
of Europe and Asia. Cambridge 1981
Landis, David: The Wealth and Poverty of Nations. New York 1998
Pomeranz, Ken: The Great Divergence: China, Europe, and the Making of the Modern World
Economy. Princeton 2000

Beste Grüße

Dr. Matthias Meyn

…und den David Landis, der Ihre Fragestellung bezüglich des Wohlstandes ganz gut auf den Punkt bringt, gibts (nach meiner Erinnerung, grins) auch auf Deutsch. Das hieß glaube ich: Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind…

Ich hoffe, das reicht jetzt erstmal!

Hallo,

also *puh* diese Frage ist nun wirklich sehr spezial und ich kann es so ad hoc nicht beantworten. Werde mir die nächsten Tage mal darüber Gedanken machen und mit ein paar Freunden darüber sprechen. Mein erster Eindruck (Donnerstag Nacht, nach ein paar Bier): falls sie geschichtliche Daten (statistische Erhebungen) haben, sollten Sie wirtschaftswissenschftler nicht die Interpretation überlassen, dafür sind wir i.d.R. zu unflexibel :wink: politikwissenschaftlier wären vielleicht die besseren Ansprechpartner, Wirtschaftswissenschaftliche Modelle sind eher für aktuelles Zeitgeschehen, die antiken oder mittelalterlichen Modelle sind eher sehr einfache Modelle. Aber wie gesagt, ich werde mir darüber Gedanken machen.
Herzliche Grüße,
Johannes

Hallo Lorenz,

Eine gewisse Ungleichverteilung muss es geben. Ist sie zu groß oder zu klein, sinkt die Leistung einer Volkswirtschaft, da es für die Akteure keinen Anreiz gibt, Leistung zu erbringen.
Daten zu den beiden anderen Fragensind ausreichend vorhanden, aber natürlich sehr schwer in der richtigen Aufbereitung zu kriegen.
Was dir sehr weiterhelfen wird ist folgendes Buch:
http://www.amazon.de/Aufstieg-Fall-gro%C3%9Fen-M%C3%…

Es analysiert die Geschichte und stellt dabei fest, dass nur zwei Faktoren die Stärke eines Landes ausmachen: Wirtschaft und Militär, wobei das Militär größtenteils von der wirtschaftlichen Stärke determiniert wird. Dazu werden sehr detailiert die volks- und betriebswirtschaftlichen Gegebenheiten der vergangenen 2000 Jahre auf der ganzen Welt analysiert. Auch als Abendlektüre sehr gut geeignet, wenn man wirtschaftlich interessiert ist.
Hoffe ich konnte Dir helfen.

Liebe Grüße
Felix

Lieber Lorenz,

ich kann leider nur zu deiner ersten Frage etwas anmerken:

Ob eine gewisse Einkommens- (und/oder Vermögens-)disparität für eine Volkswirtschaft „besser“ ist, hängt sicher von den Maßstäben. Da es sich bei diesen Maßstäben vielfach um Werturteile handeln dürfte, kann es keine wissenschaftliche objektive Aussage über die „richtige“ Verteilung geben.

Allerdings kann man theoretisch zeigen und empirisch belegen, dass eine absolute Gleichverteilung aufgrund fehlender Anreizmechanismen dazu führt, dass letztlich alle „gleich wenig“ haben. Lässt man Ungleichverteilung zu, dann ergeben sich Leistungsanreize, weil Verfügungsrechte („property rights“) entstehen. Das volkswirtchaftliche Wachstum wird größer ausfallen, so dass auch ärmere Bevölkerungsschichten absolut „mehr haben“, wenn auch um den Preis einer relativen Schlechterstellung gegenüber den jetzt „Reicheren“. Werden die Ungleichheiten zu groß, können soziale Unruhen resultieren, die das Wachstum wieder dämpfen können und zu einer Schlechterstellung aller führen. Bei welcher Verteilungskonstellation die Situation „umkippt“, ist eines der großen Geheimnisse und sich kontextabhängig.

Interessant sind in dem Zusammenhang die wichtigsten Gerechtigkeitskonzeptionen. Fünf politische Zielsetzungen sind denkbar:

  1. Leave them as you find them ( Punkt YNaturrecht)YNaturrecht ist nicht definiert
  2. maximales Einkommen für die Gesamtgesellschaft ohne Berücksichtigung der Verteilung ( Punkt YUtilitarismus)YUtilitarismus ist definiert durch YA + YB = absolutes Maximum
  3. grenznutzengleiches Einkommen für beide Gruppen ( Punkt YGrenznutzen)YGrenznutzen ist definiert durch Grenznutzen YA = Grenznutzen YB
  4. maximales Einkommen für die ärmere Gruppe ohne Berücksichtigung des gesell-schaftlichen Einkommensniveaus ( Punkt YMaximin)YMaximin ist definiert durch YA = absolutes Maximum
  5. gleiches Einkommen für beide Gruppen ( Punkt YEgalitarismus)YEgalitarismus ist definiert durch YA = YB bzw. YA = relatives Maximum