Hallo Laura,
…so ganz im Nebensatz, wie eine Nebensächlichkeit, hast Du geschrieben: morgen habe ich meine Abschlussprüfung.
Abschlussprüfung als Bankkauffrau! Oh mein Gott, ich erinnere mich noch an meine Abschlussprüfung als Industriekaufmann.
Aufregung pur und Verunsicherung in den letzten Minuten. Habe ich nochmals den richtigen Stoff gepaukt? Oder wird mal wieder was ganz anderes abgefragt? Es hatte damals geklappt, mit glatt zwei, ob das heute noch reichen würde? Ich weiß es nicht.
Die Latte hat sich nach oben verschoben.
Ich bin neugierig! Hat es geklappt? Unter diesen schwierigen Rahmenbedingungen fordert eine solch entscheidende Prüfung doch das Letzte. Wie hast Du das nur durchgestanden, hast Du noch schlafen können? Wie viele Kilo hast Du im letzten Jahr abgenommen?
Zurück zum Alltag.
Die Prüfung ist gelaufen, das Dauerproblem bleibt noch eine Weile!
Ich habe mich natürlich gefreut, dass es mir gelungen ist, ein wenig Deine Situation zu erahnen. Das ist wirklich nicht einfach mit so wenigen Fakten.
Was Du von Deinem Vater berichtest, überrascht mich nicht.
Versetze Dich doch mal in seine Lage. Nehmen wir an, es passiert Dir. Du wachst im Krankenhaus auf und eine freundliche Person in weißer Kleidung sagt Dir, dass Du ein Glückspilz bist. Auf Deine erstaunte Frage: Warum? Antwortet der freundliche Mensch, dass Du ohne Bewusstsein vorgestern eingeliefert wurdest und dass die Blutung zwar Teile des vorderen Gehirnlappens geschädigt habe, aber das Stammhirn sei davon zum Glück nicht betroffen. Glückspilz auch, weil vor wenigen Jahren nach einer Gehirnblutung jeder Patient direkt in das Jenseits abgewandert wäre oder als Wachkomapatient auf einer Krankenhausstation noch ein paar Wochen oder Monate als Gefangener in seinem Leib hätte dahin vegetieren müssen.
Wie - Du bist zu jung für eine solche Krankheit? Irrtum, Kinder können schon betroffen sein, z.B. durch eine geschädigte Aorta, (z.Zt. öfters wegen Misshandlung von Säuglingen). Natürlich wächst das statistische Risiko mit dem Alter. Schlimme Unfälle im Verkehr trifft aber die Jungen überproportional und Unfälle sind nicht voraussehbar.
Du liegst also im Krankenbett und versuchst, wieder in den Alltag zurück zu kehren. Du merkst, dass Du nach wenigen Minuten in der Erinnerung ein Loch hast. Das ist eine Katastrophe. Auf der einen Seite ist der Schatz Deines Wissens vorhanden, Du kannst über Geschehnisse vor einigen Jahren problemlos erzählen, aber der gestrige Tag ist das tiefe Schwarze Loch. Deine Lebenserfahrung ist plötzlich so wertlos, wie ein Zertifikat der Lehmann Brothers. Du kannst nicht mehr mitreden, damit bist Du zum Außenseiter geworden, Du bist ein Krüppel geworden, nutzlos und fällst noch der Gesellschaft zur Last. Und Du meidest Situationen, die Dein Versagen sichtbar machen, auf deutsch: totaler Rückzug. Gefühlslage: Verzweiflung pur: Warum ich? Auskunft der Ärzte: Was im Hirn kaputt ist, ist kaputt, da wächst nichts mehr nach, egal, ob alt oder jung! Punkt!
So oder so ähnlich muss sich Dein Vater fühlen. Er ist wütend, verzweifelt, ruhelos und er weiß nicht, wie es weitergehen soll. Sein wirkliches Problem: Er allein wird schwerlich in der Lage sein, seine Lage zu beurteilen und selbst Hilfe zu organisieren. Gleichzeitig fehlt ihm möglicherweise die Erfahrung aus seinem früheren Leben, dass es Personen gibt, denen man sich blind in jeder Situation anvertrauen kann. Freunde eben.
Als Nichtbetroffene können wir uns einen solchen Schicksalsschlag schwer vorstellen.
Es wäre daher unfair, den moralischen Zeigefinger zu heben. Zum Glück machst Du das nicht. Das ist Dir hoch an zu rechnen.
Andererseits hast Du das Recht, auf das tägliche Chaos hin zu weisen, Deine Lebensqualität leidet sicher darunter. Wie Du anschaulich geschildert hast, ist die Tagesstruktur Deines Vaters zusammen gebrochen. Er dreht sich im Kreis und ist offensichtlich nicht mehr in der Lage, die anfallenden Aufgaben im Alltag zu lösen. Ich bin sicher, dass er es zumindest ahnt und dass er darunter fürchterlich leidet.
Problemstellung Betreuer: Richtig ist, dass auch ein Betreuer was kostet. Dazu muss man wissen, dass es Berufsbetreuer und ehrenamtliche Betreuer gibt. Die ehrenamtlichen Betreuer bekommen eine jährliche Pauschale von ca. 250 Euro. Die bezahlt in der Regel die Justizkasse. Die Berufsbetreuer sind meist bei den Wohlfahrtsverbänden angestellt, wie z.B. Caritas, Diakonisches Werk, Arbeiterwohlfahrt und Rotes Kreuz. Es gibt aber auch inzwischen Betreuer, die selbständig sind. Alle sind jedoch vom zuständigen Amtsgericht beauftragt und dem Richter jährlich rechenschaftspflichtig. Das ist u.a. ein aufwändiger schriftlicher Bericht mit Offenlegung von Ein- und Ausgaben der Konten des Betreuten. Für ihre Aufgabe bekommen die hautamtlichen Betreuer ein bezahltes Zeitdeputat. Beispiel: 5 Stunden im Monat. Bei Beginn ihrer Tätigkeit haben sie natürlich mehr Stunden zur Verfügung. Abgerechnet wird mit der Gerichtskasse, nicht mit dem Betreuten, nicht mit der Verwandtschaft.
Früher wurden solche Fälle schnell in Psychiatrien oder Altersheime abgeschoben. Das war um ein Vielfaches teurer und wird dem Klienten nicht gerecht. Das Problem wurde oft nur verwaltet und nicht zufriedenstellend gelöst.
Natürlich ist der Staat nicht die Wohlfahrt und versucht, Kosten zu minimieren. Das ist grundsätzlich zu begrüßen. Es sind ja Steuergelder, die da ausgegeben werden.
Niemals aber darf der Staat die Lebensgrundlage der Beteiligten gefährden. Das Haus steht überhaupt nicht zur Disposition, wenn die Kinder dort wohnen. Sollte Dein Vater aber über ein Konto mit einer größeren Summe verfügen, wird sicher über eine Kostenbeteiligung diskutiert. Vielleicht solltest Du darüber kreativ nachdenken.
Dein Vater hat sicher auch nach der Krankheit noch gewisse Fertigkeiten, die er in einer Gruppe besser um setzen kann als allein zu Hause. Beispiel: Kochen.
Die Beratungsbüros kennen Adressen und Kontaktpersonen von in Frage kommenden Angeboten. Stichwort: Tagesbetreuung, Gesprächstherapie usw.
Genug für heute. Ich wollte eigentlich zum Weihnachtsmarkt und den Stand des Naturkindergartens unserer Gemeinde besuchen. Dann hat es wie aus Kübeln geregnet. So sitze ich vor dem Computer.
Ich grüße Dich
Peter