Hi Laika,
Mir ging es im Wesentlichen darum, etwas über die
Vorgeschichte, die gesellschaftlichen Vorgänge 50 oder 100
Jahre vorher zu erfahren, die u.U. einen Einfluss gehabt
haben. [….]
Das ist alles kaputt
gemacht worden. Welcher Teufel hat die Deutschen geritten,
dass es zu solchen Abgründen kam? Der verlorene 1. WK? Das
Militär hat zwar massiv auf Revanche hingearbeitet, aber das
alleine kann’s doch nicht gewesen sein.
Das nicht allein, aber die Frage nach gesellschaftlich dominanten Einflüssen ist hier dennoch relevant. Es gab mit Sicherheit _auch_ andere um Demokratie und Gleichberechtigung bemühte Einflüsse, aber die reaktionären und konservativen Denkmuster waren mächtiger und ihre Vertreter saßen an den entscheidenden d. h. gesellschaftlich prägenden Stellen: an den Universitäten, in den Gerichten, in der Presse, in den Verwaltungen usw.
Ich kann dir in diesem Zusammenhang vor allem den folgenden Aufsatz empfehlen: Reinhard Alter: Heinrich Manns Untertan – Prüfstein für die Kaiserreich-Debatte?, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), S. 370-398. Alter hat überzeugend hergeleitet, dass nur „ein Bruch mit dem sozioökonomischen und ideologischen Erbe des Wilhelminischen Deutschlands“ den Aufbau einer demokratischen Ordnung ermöglicht hätte.
Ich habe jedenfalls einmal eine ganz ähnliche Fragestellung wie du in einer Hausarbeit bearbeitet und kopiere dir deshalb einfach mal ein paar Absätze hier in dieses Posting. Vielleicht erhältst du dadurch ein paar Ideen zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema. Am Ende findest du die entsprechenden Literaturtitel, auf die ich mich bezogen habe:
Wirsching bearbeitetet die Frage nach den bürgerlich-konservativen Leitbildern der deutschen „Mehrheitsgesellschaft“, die die Zustimmung im Jahr 1933 beeinflusst und die nationalsozialistische Machteroberung gesellschaftlich-kulturell und politisch ermöglicht haben. Er benennt fünf Dimensionen gesellschaftlicher Zustimmung: Charisma, Gewalt, Zweckrationalität, Bürokratie und Indifferenz.
Wirsching warnt jedoch davor, die Dimensionen von Charisma und Gewalt überzubewerten. Es sei folglich umso wichtiger, gesellschaftliche Zustimmungsmechanismen aufzuspüren, die jenseits von Charisma und Gewalt liegen: Zu diesen Dimensionen zählt Wirsching die Dimensionen von Bürokratie und Indifferenz, aber auch die „funktionalen Dimensionen“ gesellschaftlichen Verhaltens, die durch Interessenaktivierung, Interessenanpassung und zweckrationales Handeln durchzogen gewesen seien.
Diese Dimensionen muss man berücksichtigen, wenn man sich fragt, warum die nationalsozialistische Propaganda auf fruchtbaren Boden fiel: sie bot für ganz unterschiedliche Gruppierungen unterschiedliche Anknüpfungspunkte.
Um jedoch nachzuvollziehen, warum die Phrasen über die Lebensraumbeschaffung für die Erschaffung eines Großdeutschen Reiches und seiner rücksichtslosen „Germanisierung“ überhaupt auf fruchtbaren Boden fallen konnten, ist es angesichts der unmittelbaren Abhängigkeit zwischen den beiden Phänomenen Nationalismus und Antisemitismus unerlässlich, zunächst einen Blick zurück in die Geschichte der deutschen Nationalbewegung zu werfen.
Dieser Rückblick stellt eine unverzichtbare Voraussetzung für die Rekonstruktion des gesellschaftlich prägenden Diskurs- und Mentalitätszusammenhangs dar, an denen die NS-Propaganda passsicher anknüpfen und sich entfalten konnte.
Lange Zeit hielt sich die These hartnäckig, ein ehemals „linker“, emanzipatorischer Nationalismus habe sich am Endpunkt der „liberalen Ära“ 1878/79 in eine „rechte“ Integrationsideologie verwandelt. Vogel hat dieses These widerlegt und für ein zeitliches Nebeneinander beider Strömungen appelliert, von denen die national-konservative Bewegung jedoch als die wirkungsmächtigere zu bezeichnen sei.
Sie belegt anhand mehrer Beispiele, dass die Konstruktion von Feindbildern seit jeher die deutsche Nationalbewegung konstituiert habe und sich durch eine „doppelt ambivalente Wirkung“ auszeichne, die sich einerseits in ihrer Notwendigkeit für die Definition einer Nation und andererseits für die Formulierung eines „Wir-Gefühls“ manifestiere. Aus dem bloßen Vorhandensein oder Zuwachs konservativer Gruppierungen ließe sich die Breitenwirkung des gesellschaftlichen Antisemitismus im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts nicht erklären, sondern sie sei wesentlich aus der „antisemitischen Wende im Liberalismus“ hervorgegangen, die ihren Anfang in der Phase der Definitionsbildung der nationalen Identität finde.
Dass der Nationalsozialismus und der bürgerlich-konservative völkische Nationalismus programmatisch und organisatorisch viele Parallelen aufweisen, hat auch Puschner betont: Er hat - wie viele vor ihm - in seiner Analyse nachgewiesen, dass die Begriffe, Motive, Denkmuster und Feindbilder durch die völkische Bewegung bereits vor dem ersten Weltkrieg vollständig ausformuliert gewesen seien und dass ihre ebenso aggressive wie zielgerichtete Agitation den „ideologischen Nährboden, die organisatorischen Voraussetzungen und das propagandistische Instrumentarium für den Nationalsozialismus“ erschaffen habe, die sich mit den Schlagwörtern „Ein Volk – ein Reich – ein Führer“ zusammenfassen lassen.
Die Nationalsozialisten profitierten somit von der „Schaffung faschistischer Potentiale“ durch völkisch-nationalistische Gruppierungen und Einzelakteure, weil sie sich aus dem Kreis ihrer Anhänger und aus der umfassenden ideologischen Rüstkammer bedienen konnten.5 Mühlenfeld teilt dieses Urteil und fügt hinzu, dass es ihnen auf diese Weise gelungen sei, sich auf dem Rücken der alten Rechten als „neue rechtspopulistische Sammlungsbewegung“ zu erheben.6
Diskursanalytisch gesprochen bildete die Utopie von einer „rassereinen, deutsch-germanisch-arischen Volksgemeinschaft“ also den gemeinsamen diskursiven Kristallisationspunkt der politisch-gesellschaftlichen Agitation beider Bewegungen, in dem sich sowohl Denkmuster als auch Verhaltensweisen zu einer deutschnationalen Mentalität verdichteten.
In diesem Prozess ist auch die Verknüpfung nationalistischer Propaganda mit Forderungen gegen die Revolution 1918/19 und gegen die Republik hervorzuheben, mit der sich auch die Judenfeindschaft verschärft habe: Die Repräsentanten der Republik seien als „Novemberverbrecher“ diffamiert und für die Annahme des Friedensvertrags von Versailles verantwortlich gemacht worden.
„Versailles“ und die „Weimarer Republik“ standen somit gleichermaßen für die Kriegsniederlage, die Revolution, die Demokratie, Inflation, soziales Chaos, Dekadenz, Verfall und Verbrechen und ihre Ablehnung und Ressentiments übernahmen die Funktion von Zustimmungsmagneten. Der Zusammenhang zwischen der Verletzung des „kollektiven Selbstbewusstseins“ durch die Kriegsniederlage und der ihr eigentümlichen Notwendigkeit eines Sündenbocks sticht auch besonders dadurch hervor, dass nicht nur die Republik und die Demokratie zur Chiffre für „Verrat am Volk und Nation“ geworden seien, sondern dass in diesem Zuge auch gleich alle Personen und Kräfte der neuen Staatsform zu „Volksfeinden“ stilisiert worden seien.
Die Nationalsozialisten verstanden es also, an das durch den Versailler Vertrag gebrandmarkte Nationalgefühl vieler gedemütigter Patrioten anzuknüpfen. Gellately hebt berechtigterweise hervor, dass die Hingabebereitschaft einer Mehrheit der Bevölkerung insbesondere der Lohn dafür gewesen sei, dass Hitler ihnen das Gefühl zurückgegeben habe, als Deutsche ein Anrecht auf den „Platz an der Sonne“ zu haben.
Hafner bekräftigt dies analytisch-präzise mit den folgenden Worten:
„[…] Jede Tugend kann sich, wie wir wissen, ins Gegenteil verkehren, und der deutsche Patriotismus ist das beste Beispiel dafür, falls er überhaupt je eine Tugend gewesen ist. Schon vor langer Zeit – lange vor den Nazis – ist er degeneriert. Er hat jedes Maß und jeden Sinn verloren. Er macht aus dem „Vaterland“ eine leere, abgedroschene Floskel, und gleichzeitig erhebt er es zu einer Gottheit. Bei einer genaueren Analyse entdeckt man das gleiche charakteristische Merkmal, das auch dem Nazismus eigen ist: aktive[r] Nihilismus oder, umgekehrt, destruktive Totalität. Der deutsche Patriotismus war der schwächste Punkt im Deutschland der Vor-Hitler-Zeit, die Stelle, wo die Toxine des Nationalsozialismus eindringen konnten. Und er ist immer noch der einzige Punkt, in dem die Nazis und viele zivilisierte Deutsche, die keine Nazis sind, wirklich übereinstimmen.“
Insofern sind alle Erklärungsansätze als historisch unzureichend zurückzuweisen, die zwischen einem „guten“ Nationalismus und einem „aggressiven“ Nationalismus zu differenzieren versuchen oder sich gar herausnehmen, die für das NS-Regime charakteristischen Ausgrenzungsmechanismen ausschließlich der NS-Volksgemeinschaft zuzuschreiben.
Der Bezugspunkt zur Nation barg alle notwendigen Ausgrenzungsmechanismen schon in sich und konnte mit beliebigen „Platzhaltern“ gefüllt werden: Der Antisemitismus stellte den „Kitt einer rechtsradikalen Subkultur völkischer Verbände, Freikorps und paramilitärischer Bünde“ neuen Ausmaßes dar, der sich durch die Agitation in den Medien, Verwaltung, Universitäten, im Militär sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik vervielfachte und auf diese Weise dem Nationalsozialismus den Weg ebnete.
Literatur:
Ahlheim, Klaus: Erinnern und Aufklären. Interventionen zur historisch-politischen Bildung (= Kritische Beiträge zur Bildungswissenschaft, Bd. 1), Hannover 2009.
Bajohr, Frank: Vom antijüdischen Konsens zum schlechten Gewissen. Die deutsche Gesellschaft und die Judenverfolgung 1933-1945, in: Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, hg. v. ders.; Diether Pohl, München 2006.
Bley, Helmut: Der Traum vom Reich? Rechtsradikalismus als Antwort auf gescheiterte Illusionen im Deutschen Kaiserreich 1900-1918, in: Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, hg. v. Birthe Kundrus, Frankfurt a. M. 2003, S. 56-70.
Gellately, Roger: Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk, Stuttgart 2002.
Mühlenfeld, Daniel: Zur Bedeutung der NS-Propaganda für die Eroberung staatlicher Macht und die Sicherung politischer Loyalität, in: Deformation der Gesellschaft? Neue Forschungen zum Nationalsozialismus, hg. v. Christian A. Braun; Michael Mayer, Sebastian Weitkamp, Berlin 2008, S. 93-117.
Peters, Michael: Der Alldeutsche Verband am Vorabend des Ersten Weltkrieges (1908-1914). Ein Beitrag zur Geschichte des völkischen Nationalismus im spätwilhelminischen Deutschland (= Reihe III Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 501), Frankfurt a. M. 1992.
Rensmann, Lars: Kritische Theorie über den Antisemitismus. Studien zur Struktur, Erklärungspotential und Aktualität, Hamburg 1998.
Sösemann, Bernd (Hg.): Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Einführung und Überblick, Stuttgart, München 2002.
Süllwold, Fritz: Deutsche Normalbürger 1933-1945. Erfahrungen, Einstellungen, Reaktionen. Eine geschichtspsychologische Untersuchung, München 2001.
Vogel, Barbara: Vom linken zum rechten Nationalismus. Bemerkungen zu einer Forschungskontroverse, in: Vom schwierigen Zusammenwachsen der Deutschen. Nationale Identität und Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Bernd Jürgen Wendt, Frankfurt a. M. 1992, S. 97-110.
Walkenhorst, Peter: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 176), Göttingen 2007.
Wirsching, Andreas: Das Jahr 1933: die nationalsozialistische Machteroberung und die deutsche Gesellschaft (= Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 9), Augsburg 2009.
Viele Grüße
menschine