Ernste vs. klassische Musik

Moin!

  1. Wie wird Ernste Musik definiert, resp. von der nicht-ernsten (U-, leichten, wie auch immer) Musik unterschieden und abgegernezt?

  2. Wie, wann und zu welchem Zweck ist diese Unterscheidung eingeführt worden?

  3. Wird der Gegensatz E- und U- in der modernen Musikwissenschaft weiter geführt?

  4. Hat er überhaupt Sinn? (ausser in Schubladendenken der Muskindustrie und des Rundfunks)

  5. Wie steht der Begriff E-Musik zum Begriff Klassische Musik?

Die in Wikipedia und ähnlichen Seiten gefundene Erklärungen finde ich etwas durftig. Daher hoffe ich auf Antwort eines Musikwissenschaftlers :wink:

MfG

C.

Hallo Crannmer!

Musikwissenschaftler bin ich ja keiner, aber eine eigene Ansicht dieser Dinge habe ich. Ich komme mit der Unterscheidung, wie sie "normaler"weise erfolgt, auch nicht klar.
M.E. müßte sich die Unterscheidung zwischen „E“-Musik und „U“-Musik durch sämtliche Stilrichtungen hindurchschlängeln.
Wenn Bach als Thomaskantor seine Kantaten schrieb, war das „Ernste Musik“. Wenn er „Brandenburgische Konzerte“ oder gar die großartige Verarschung „Der zufriedengestellte Äolus“ schrieb, dann war das „U-Musik“.
Umgekehrt mag fast alles von Elvis Presley „U-Musik“ sein, „In the Ghetto“ ist aber ganz sicher „Ernste Musik“.

Der Begriff „Klassische Musik“ ist auch äußerst schwammig. Meint das nur die "Wiener Klassik?
Ist Barockmusik „klassisch“? Oder gar Renaissancemusik? Oder ist ein Strauß-Walzer „klassisch“? Ich meine: nein.

Musikalische Grüße
Barney

Sprachgebrauch
Hallo Crannmer,

wie mein Vorredner schon andeutet, ist die Unterscheidung bei näherer Betrachtung fragwürdig.

In den Kulturwissenschaften ist es aber gängige Einsicht, daß Einteilungen in Stile, Epochen etc. stets unsicher sind. Es ist aber pragmatisch, zur Orientierung daran festzuhalten.

Beethoven schrieb als Mittzwanziger Klavierstücke, die man auch romantisch nennen könnte (ich meine nicht nur die Mondscheinsonate) - trotzdem sagt keiner, daß Beethoven Romantiker war.

Was E- und U-Musik angeht, gibt es in den allermeisten Fällen einen Konsens, worin man was einordnen würde.

Selbst Lenny’s West Side Story würde ich in der U-Musik-Abteilung suchen, obwohl dieses Musical z.B. ganz offensichtlich bestes Handwerk zeigt (man muß echt einmal in die Noten gucken, das sieht schon anders als bei „Cats“ aus). Nur weil es halt so schmissig klingt, ist das doch keine E-Musik mehr… :smile:)

Gruß
Stefan

Danke für Deine Antwort.

Wenn man sich vom der vordergründigen Bedeutung „E-Musik“ verleiten lässt, ist eine halbwegs konsequente Zuordnung überhaupt nicht möglich.

Nun aber ist ja dieser Begriff von der Art, wie auch Meerschweinchen - weder Meer- noch Schweinchen :smile:

Daher bin ich auf der Suche nach einer zuverlässigen Definition, die auch halbwegs schulmeisterlich abgesichert ist.

Und mit der Aussage, dass moderne Musikwissenschaft den Gegensatz E- vs. U- nicht mehr aufrechterhällt, wäre ich ggf. auch zufrieden :wink:

MfG

C.

Moin

Was E- und U-Musik angeht, gibt es in den allermeisten Fällen
einen Konsens, worin man was einordnen würde.

Ebenhier zielte meine ursprüngliche Frage: nach welchen Grundsätzen wird eingeordnet?

Das ist ja mein Problem: alle reden mit und ordnen ein ohne zu zögern, aber feste Grundsätze habe ich noch keine gefunden.

Selbst Lenny’s West Side Story würde ich in der
U-Musik-Abteilung suchen, obwohl dieses Musical z.B. ganz
offensichtlich bestes Handwerk zeigt (man muß echt einmal in
die Noten gucken, das sieht schon anders als bei „Cats“ aus).
Nur weil es halt so schmissig klingt, ist das doch keine
E-Musik mehr… :smile:)

Noch :smile:

Operetten, Walzer und Polkas waren ja früher auch reinstes U. Aber wenn jemand heutzutage die musikalische Prostitution namens Wiener Neujahrskonzert U nennen würde, hätte er den Lacher der Saison gelandet :wink:

MfG

C.

Hallo Crannmer!

Ebenhier zielte meine ursprüngliche Frage: nach welchen
Grundsätzen wird eingeordnet?

Das ist ja das prinzipielle Problem. Formuliert man einen Grundsatz etwa für E-Musik, findet sich ein musikalischer Bereich, wo dieser Grundsatz verletzt ist und man aber trotzdem von E-Musik sprechen würde.

Beispiel: „E-Musik muß irgendwie einen Ewigkeitswert haben.“, damit
meine ich, daß diese Musik auch noch in 100 Jahren interessant sein
könnte aufgrund ihrer handwerklichen Machart, der Feinheit ihrer Ideen etc. (Ich weiß, das alles kann man diskutieren!!!)

Gegen diesen Grundsatz spricht die Unmenge an Gebrauchsmusik
(auch so ein Gattungsbegriff…), die für Gottesdienste und kleinere Kirchenmusiken verwendet wird. Niemand wird sagen, daß ein kleineres Orgelvorspiel zu einem Gemeindelied keine E-Musik sei - obwohl die allermeisten Orgelvorspiele, die für Gottesdienste verwendet werden, nicht einmal als Solo-Stück für ein Kirchenkonzert taugen würden, geschweige denn in 100 Jahren betrachtet. Ich bekomme hin und wieder antiquarische Noten aus dem 19. Jhd. in die Hände mit Gottesdienst-Vorspielen für Dorforganisten - diese Musik ist einfach igitt. (Sorry.) Ganz bestimmt kein Ewigkeitswert, trotzdem E.

Pardon für die lange Ausführung, ich versuchte nur die Problematik aufzuzeigen.

Operetten, Walzer und Polkas waren ja früher auch reinstes U.
Aber wenn jemand heutzutage die musikalische Prostitution
namens Wiener Neujahrskonzert U nennen würde, hätte er den
Lacher der Saison gelandet :wink:

Hm, ich hätte mich im Einklang mit x Leuten gesehen mit der Behauptung, das Wiener Neujahrskonzert sei U… (lachst Du jetzt? :wink: )

Gruß
Stefan

Hallo!

  1. Wie wird Ernste Musik definiert, resp. von der
    nicht-ernsten (U-, leichten, wie auch immer) Musik
    unterschieden und abgegernezt?

Der dtv-Atlas Musik definiert U-Musik als Unterhaltungsmusik (leichte Musik) im Sinne einer „Ware in der modernen Massengesellschaft, käuflich auf Schallplatten und verbreitet durch den Rundfunk“, und dies im ‚Gegensatz‘ zu früherer Musik zur Unterhaltung, die live stattfand (z.B. Quodlibet oder Divertimento).
Ich denke auch, daß die Bezeichnung E-Musik immer einen gewissen künstlerischen Anspruch in sich trägt.

  1. Wie, wann und zu welchem Zweck ist diese Unterscheidung
    eingeführt worden?

Laut dtv: Ende des 19. Jhdts. im Zuge der Industrialisierung.

  1. Wird der Gegensatz E- und U- in der modernen
    Musikwissenschaft weiter geführt?

Ich denke schon, wenn gleich eher aus pragmatischen als aus wissenschaftlichen Gründen. Hier gilt das Gleiche wie für die Epocheneinteilung: diese Epochen folgen nicht „im Gänsemarsch“ aufeinander, sondern überschneiden sich, laufen z.T. parallel, beeinflussen sich gegenseitig; trotzdem ist es hilfreich, eine Orientierung zu haben.

  1. Hat er überhaupt Sinn? (ausser in Schubladendenken der
    Muskindustrie und des Rundfunks)

Für mich persönlich grenzen sich dadurch im klassischen Sinn komponierte Musik und die eher ‚schnellebige‘ Unterhaltungsmusik ab. Unabhängig von Gefallen bzw. persönlichem Geschmack hat erstere, die E-Musik, für mich etwas mit künstlerischer Originalität und Kreativität zu tun (das heißt nicht, daß sie ‚schön‘ sein muß; Zwölftonmusik z.B. finde ich eher unangenehm); die U-Musik unserer Zeit arbeitet ja mit Wiederholungen, Kopien, im Grunde Varianten des immer Gleichen (es gibt aber angenehme Ausnahme); die Mittel sind begrenzt, weil sie ja schnell verfügbar sein müssen. ‚Bestes‘ Beispiel: die unsägliche Schlagerszene mit ihrem immer gleichen 6/8 Takt - Synthesizer -Begleitrhythmus …uuuaah…

  1. Wie steht der Begriff E-Musik zum Begriff Klassische Musik?

Der Begriff Klassische Musik wird im alltäglichen Gebrauch (fälschlicherweise) gleichbedeutend mit E-Musik verwendet.
Korrekterweise, d.h. vom musikwissenschaftlichen Standpunkt aus, ist „klassisch“ eigentlich nur für die Wiener Klassik zutreffend, d.h. für die Musik von Haydn, Mozart und Beethoven, und nur für diese drei.

MfG, Hedwig