Hallo,
vielleicht hilft folgende Geschichte zu verstehen, was es mit dieser Eulerschen Zahl auf sich hat.
Angenommen, Du hast am 01. 01. ein Konto bei einer Bank eröffnet und sofort 1000 € in bar eingezahlt. Das tust Du gerne, weil es ein äußerst lukratives Konto ist, denn es ist Dir gelungen, mit der Bank einen sagenhaften Zinssatz von 100 % dafür auszuhandeln (dass dies völlig unrealistisch ist, wollen wir mal außer acht lassen). Dafür musstest Du Dich jedoch verpflichten, innerhalb des ersten Jahres weder weitere Einzahlungen noch Abhebungen zu tätigen.
Diese Konditionen erlauben Dir, genau voraussagen, wie hoch der Kontostand am 31. 12. sein wird, nämlich die Starteinlage von 1000 € plus dasselbe nochmal an Zinsen – macht 2000 € insgesamt. Wow!
Nun triffst Du draußen auf dem Platz vor der Bank Deinen Kumpel, dem Du stolz von Deinem fantastischen Konto erzählst. Der lächelt jedoch nur, denn er hat gleichzeitig mit Dir ebenfalls ein solches Konto eröffnet. Dazu verrät er Dir, dass er mit der Bank eine andere Zinsmodalität vereinbart hat: Sein Konto ist nicht mit dem Zinssatz 100 % geschmückt, sondern nur mit 50 %, aber dafür wird sein Geld zweimal jährlich verzinst. Der Kontostand erhöht sich bei ihm also nicht nur am 31. 12., sondern auch schon am 30. 06.
Du denkst Dir zunächst nichts weiter dabei, denn einmal jährlich 100 % ist doch dasselbe wie zweimal jährlich 50 %, oder etwa nicht? Als Du auf dem Nachhauseweg die Sache durchdenkst, kommen Dir allerdings Zweifel. Denn die 50 % Zinsen, die am 30. 06. den Kontostand Deines Kumpel erhöhen, werden sechs Monate später bei ihm ja wiederum verzinst! Bedeutet dies etwa, dass Dein Kumpel am 31. 12. mehr auf dem Konto hat als Du? Eine Rechnung gibt die Antwort: Du kannst Dich über 1000 € · (1 + 1) = 2000 € freuen, aber Dein Kumpel über 1000 € · (1 + 1/2) · (1 + 1/2) und das ist mehr, nämlich 2250 €!
Dich ärgert natürlich, dass Dein Kumpel von seiner halbjährlichen 50 %-Verzinsung so unverschämt profitiert. Was tun? Na klar, Du gehst zur Bank und bittest um eine sofortige Umstellung der Verzinsungsweise, die Dir schließlich auch gewährt wird. Dein Konto wird von nun an aber nicht halbjährlich zu 50 % verzinst wie das Deines Kumpels, sondern zu jedem Monatsende zu 100/12 % = 8.333 %! Weil Du Dir ausgerechnet hast, dass das noch profitabler ist: 1000 € · (1 + 1/12)12 = 2613 €!
Das Weitere kannst Du Dir denken. Grün vor Neid setzt Dein Kumpel bei der Bank die wöchentliche Verzinsung zu einem Zinssatz von 100/52 % durch, und Du anderntags die tägliche Verzinsung zu einem Satz von 100/365 %. Woraufhin der Filialleiter sehr unfreundlich wird und sagt, dass jetzt Schluss sei mit den Spielchen.
Listen wir alle Jahresende-Kontostände bei den unterschiedlichen Zinsmodalitäten mal auf:
1000 € · (1 + 1)2 = 2000 €
1000 € · (1 + 1/2)2 = 2250 €
1000 € · (1 + 1/12)12 = 2613 €
1000 € · (1 + 1/52)52 = 2692 €
1000 € · (1 + 1/365)365 = 2714 €
Man erkennt, dass der Zuwachs am Schluß immer kleiner wird. Die Liste lässt erahnen, dass die Zahlen gegen eine Grenze irgendwo bei 27XX € streben, die bei kontinuierlicher Verzinsung erreicht wäre. Der damit theoretisch erzielbare maximale Jahresende-Kontostand beträgt
1000 € · limn → ∞ (1 + 1/n)n.
Der eigenwillige Grenzwert limn → ∞ (1 + 1/n)n, dem eine große Bedeutung in der Mathematik und den Naturwissenschaften zukommt, heißt Eulersche Zahl e. Es ist – genau wie π – eine fundamentale mathematische Konstante. Ihr Zahlenwert ist endlich und beträgt
e = limn → ∞ (1 + 1/n)n = 2.718281828…
d. h. bei „kontinuierlicher“ Verzinsung würde sich der dann nicht mehr zu toppende Jahresende-Kontostand auf 2718.28 € belaufen. In diesem Fall kann kann man den Kontostand auch zu jedem Zeitpunkt angeben; die Kontostand-von-Zeit-Funktion K(t) ist dann
K(t) = 1000 € · et/(1 Jahr)
Eine „kontinuierliche“ Verzinsung wird zwar von keiner realen Bank angeboten, aber es gibt viele Sachverhalte und Vorgänge in der Natur, denen eine solche Gesetzmäßigkeit zugrunde liegt. Ein häufig genanntes Beispiel ist das Wachstum einer Bakterienkultur bei unbegrenztem Lebensraum- und Nahrungsangebot. Je mehr Bakterien zu einem bestimmten Zeitpunkt schon vorhanden sind, desto mehr vermehren sich auch während des nächsten Zeitschritts, d. h. der zeitliche Bestands_zuwachs_ ist proportional zur aktuellen Bestands_größe_ mit einem konstanten Proportionalitätsfaktor. Jeder Prozess mit dieser Charakteristik kann mit der Funktion B(t) = B0 et/Zeitkonstante beschrieben werden (B = Bestand). Man sagt dann, es liege ein exponentielles Wachstum vor (andere Wachstumscharakteristiken wären z. B. lineares oder quadratisches oder allgemein polynomielles Wachstum).
Weitere Beispiele wären der Luftdruck (je tiefer man kommt, desto mehr Luftschichten drücken von oben auf die darunterliegenden) oder die Entladung eines Kondensators über einen konstanten Widerstand an einer konstanten Spannung (je mehr Elektronen schon raus sind, desto weniger Antrieb haben die verbleibenden, den Kondensator auch noch zu verlassen).
Die menschliche Intuition neigt übrigens dazu, die Stärke exponentiellen Wachstums massiv zu unterschätzen. Fakt ist, dass alles, was exponentiell wächst, letztlich geradezu BRUTAL wächst. Das verdeutlicht die Legende von dem König, der dem Erfinder des Schachspiels den Wunsch erfüllen wollte, auf das erste Feld des Spielbretts ein Reiskorn zu legen, auf das zweite Feld zwei, auf das dritte vier, auf das vierte acht und immer so weiter mit sich verdoppelnder Reiskornanzahl. Der König lächelte und ließ ein paar Säcke Reis herbeischaffen – bis er erkannte, dass er aufgrund des exponentiellen Wachstums den Wunsch niemals erfüllen könnte: die 263 Reiskörner, die er auf das 64. und letzte Feld hätte legen müssen, entsprechen einem Vielfachen der derzeitigen Weltjahresproduktion an Reis! Auch „Schneeballsysteme“ oder angebliche Gewinnsysteme für Glücksspiele (sogenannte Martingale-Systeme) basieren auf dem exponentiellen Wachstum bestimmter Größen (Teilnehmerzahl/Spieleinsätze), und in der Tatsache, dass dies wegen beschränkter Ressourcen sehr schnell an Grenzen stoßen muss, liegt der Grund für das Nichtfunktionieren solcher Systeme.
Gruß
Martin