Hallo Marion,
Mir ist zum Beispiel nicht so ganz klar, wie du die Begriffe
„Ahnengeister“, Totenkult und Ahnenkult verwendest.
ich verweise der Einfachheit halber auf die Wikipedia-Artikel ‚Totenkult‘ und ‚Ahnenkult‘.
Wären denn
zum Beispiel für dich Gebete, die im Rahmen der katholischen
Messe für die Verstorbenen Gesprochen werden auch ein
„Totenkult“?
Ja, sicher - ein Ritus, der dem Totenkult zuzuordnen ist.
Gehen nicht (fast) alle Religionen davon aus,
dass die „Seelen“ der Verstorben nach dem Tod irgendwo weiter
existieren und währe das für dich gleichbedeutend mit
„Ahnengeistern“?
Von ‚Ahnengeistern‘ kann man dann sprechen, wenn diese ‚Seelen‘ oder ‚Geister‘ eine Funktion als Mitglieder des Familien- oder Sippenverbandes erfüllen - anders gesagt, wenn zwischen den Verstorbenen und den mit ihnen verwandten Lebenden soziale Interaktion stattfindet (oder imaginiert wird). Von einem ‚Ahnenkult‘ wäre zu sprechen, wenn diese ‚Interaktion‘ in ritualisierter Form stattfindet. Dies setzt natürlich eine andere, sehr viel weitere Auffassung von Familie/Sippe voraus, als sie der ‚moderne‘ Mensch mit seinem weitgehend auf die Kleinfamilie reduzierten Verständnis hat. Die Ahnen sind eben nicht die Vorfahren der Familie, sie sind ihr ‚unsichtbarer‘ Teil - bis hinauf in mythische Vorzeiten.
Daraus folgt natürlich auch eine andere Gewichtung von Individuum einerseits und Familienverband andererseits. Modernere soziale Verbände wie ‚Volk‘ oder ‚Staat‘ sind zu einem guten Teil Erben dieser so verstandenen Gentilverbände - insbesondere der Loyalität die ihnen entgegengebracht wurde und der Identifikation des Individuums mit ihnen.
Wäre für dich das Aufstellen einer Kerze in
einer Kirche im Gedenken an einen Verstorbenen Teil eines
Ahnenkults?
In diesem Fall könnte man vielleicht sagen, wenn Dein ‚Gedenken‘ wirklich mit konkreten Erinnerungen an die betreffende Person zusammenhängt, handelt es sich um Totenkult. Dein ‚Gedenken‘ ist dann Ausdruck einer persönlichen Beziehung zwischen Dir und dem/der Verstorbenen. Tust Du dies hingegen z.B. zum Gedenken an eine Urgroßmutter, die Du nie persönlich kennengelernt hast, wäre es schon gerechtfertigt, von Ahnenkult zu sprechen. Die soziale Interaktion, von der ich oben geschrieben habe, ist das ‚Gedenken‘, das Bezugsfeld dieser Interaktion die Familie.
Vermutlich hat ich bei diesen Begriffen Differenzierteres im
Sinn, denn so dürften sich in allen Religionen Belege für
Ahnengeister, Totenkult oder Ahnenkult finden.
Richtig, es handelt sich um eine anthropologische Konstante; ein allen Religionen (genauer: ihrer sozialen Gestalt) gemeinsames Substrat, das - je nach Religion - mehr oder weniger deutlich erkennbar ist.
Das macht es
dann aber schwer, zwischen den Religionen und ihrem Umgang mit
Tod und Sterben zu differenzieren, denn dass sich Religionen
hier zum Teil doch extrem unterscheiden, dürfte ebenfalls klar
sein.
Nun - man darf sich durch Wahrnehmung der Gemeinsamkeiten nicht den Blick auf die Unterschiede verstellen lassen … 
Ich finde aber, man sollte auch schon etwas genauer
unterscheiden, auf welche Weise, mit welchen Hoffnungen, und
vor welchem Hintergrund (Kosmologie) Menschen für ihre
Verstorbenen beten oder bestimmte Riten durchführen.
Nun - ich unterstelle mal, dass bei den meisten Menschen diese Hoffnungen und der ‚Hintergrund‘ sehr diffus sind und die unreflektierte Übernahme tradierter Bräuche den Regelfall darstellt, eine Analyse (und womöglich gar noch Auswahl) der Bräuche in Hinsicht auf ihre ‚Tauglichkeit‘ im Sinne der persönlichen religiösen Ansichten hingegen die Ausnahme. Was natürlich sehr viel mit der Unwilligkeit der meisten Menschen, sich mit dem Thema Tod und Sterben gründlich auseinanderzusetzen, zu tun hat.
D.h. gerade in diesem Bereich sind die Vorstellungen idR diffus und eben nicht differenziert - insofern ist es auch schwer, hier zu differenzieren. Einfach ist dies nur, wenn wir die orthodoxen Lehren der sog. ‚Hochreligionen‘ miteinander vergleichen - nicht aber in der volkstümlichen Praxis, im religiösen Brauchtum.
Einfach
zu sagen, es gibt hier einen Totenkult, ist meiner Meinung
nach noch keine Gemeinsamkeit,
Nun, ein wenig spezifischer war ich schon … Es gibt eine gemeinsame Vorstellung von einem ‚geisterhaften‘ Weiterexistieren der Verstorbenen und es gibt die gemeinsame Praxis, diesen Geistern Opfer darzubringen.
Auch der
frühbuddhistische Totenkult, wie er sich aus dem
Tirokudda-Kanda-Sutta erschließen lässt, ist sicher als
Zugeständnis an volkstümliche Bedürfnisse und präexistente
Traditionen zu werten.
Och, das würde ich so nicht sagen. Ich finde dies jedenfalls
nicht weniger „modern“ als zum Beispiel christliche oder
andere Totenrituale und auch für westliche Buddhisten, die der
buddhistischen Lehre und Kosmologie folgen, nicht „unpassend“.
„Modernität“ als Wertung ist hier sicher eine völlig sinnlose Kategorie. Der Hinweis ging hier in die Richtung, dass Religionen eben auch soziale Bedürfnisse zu erfüllen haben - und dies gelegentlich auf Kosten der Konsistenz der Lehre geht.
Gibt es denn auch inhaltliche Übereinstimmungen mit
den Gebeten und Texten die im Zusammenhang mit „Bardo“ im
tibetischen Buddhismus rezitiert werden?
Was die Tibeter angeht, so kenne ich da nur das Bardo Thödol, und das hat keine direkte japanische Entsprechung. Ansonsten - die Einheitlichkeit der japanischen Toten-Zeremonien geht nicht so weit, dass in allen Schulen nun die gleichen Texte rezitiert würden. Was nun im Shingon rezitiert wird, weiss ich nicht. Das ‚esoterischste‘, was Zen da kennt ist das Daihi Shin Dharani, eine ‚Beschwörung‘ Avalokitesvaras. Ansonsten Sutrentexte aus der Prajnaparamita-Gruppe und Versabschnitte aus dem Lotossutra. Bei Shin und Jodoshin stehen natürlich Amidasutra und Sukhavati-vyuha im Vordergrund, bei Nichiren exklusiv Lotossutra …
Woran würden sich denn westliche Buddhisten z.B. in
Deutschland orientieren, die den Zen-Buddhismus praktizieren,
wenn einer der Ihren verstirbt?
Da ist noch sehr viel im Fluss, diese Dinge entwickeln sich noch. Aber generell zeichnet sich ab, dass auf japanische ‚Folklore‘ (um es mal ganz respektlos auszudücken) weitgehend verzichtet wird. Da ist die Anlehnung an evangelisch-christliche Formen (was den Ablauf angeht) eher größer als an japanische. Also eine ‚offizielle‘ Zeremonie bei der Beisetzung. Ansonsten Gedenkzeremonien eher nur in dem Rahmen, dass auf dem ‚Altar‘ (butsudan) ein Bild des Verstorbenen aufgestellt wird (anstelle der ‚Ahnentafel‘ ihai) und eine Verdienstübertragung (eko) für den Verstorbenen rezitiert wird. Ansonsten - Feuerbestattung ist die Regel, aber bei uns ja schon lange nichts Ungewöhnliches. Das Friedwald-Konzept scheint sich nach meinem Eindruck (ohne das jetzt quantifizieren zu können) recht großer Beliebtheit zu erfreuen. Beim letzten Todesfall in unserer Gemeinschaft war eine Beisetzung der Urne auf See gewünscht.
Freundliche Grüße,
Ralf