Flüssiges Glas bei Raumtemperatur

Hallo!

Ich habe schon öfter gehört, dass Glas bei Raumtemperatur flüssig, wenn auch sehr zähflüssig ist. Angeblich kann man das an alten Fensterscheiben nachmessen, dass diese unten dicker als oben sind. Ich hab jetzt leider grad keine alte Scheibe zum Nachmessen zur Hand. Wenn das so ist, hat Glas dann überhaupt einen Gefrierpunkt?

Dann hab ich aber auch gehört dass Obiges nur ein modernes Märchen wär, und dass Glas zwar keinen genauen Schmelzpunkt hat, weil es nicht kristallin ist, sondern einen Schmelzbereich, dessen untere Grenze aber mindestens bei 700°C liegt.

Was stimmt denn nun? Also ich find Letzteres irgendwie logischer. Was sagt ihr dazu?

Grüße
Jojo

Schau mal hier:
Hallo Jojo,

http://www.zeit.de/stimmts/1997/1997_29_stimmts

Gruß Alex

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Hi Jojo!

Ich habe schon öfter gehört, dass Glas bei Raumtemperatur
flüssig, wenn auch sehr zähflüssig ist. Angeblich kann man das
an alten Fensterscheiben nachmessen, dass diese unten dicker
als oben sind. Ich hab jetzt leider grad keine alte Scheibe
zum Nachmessen zur Hand. Wenn das so ist, hat Glas dann
überhaupt einen Gefrierpunkt?

Das ist durchaus richtig so. Glas ist im physikochemischen Sinne allerdings eher ein Oberbegriff für unterkühlte Schmelzen hoher Viskosität. Was wir landläufig als Glas bezeichnen ist lediglich eine spezielle Sorte - normalerweise Siliziumoxid.

Prinzipiell läßt sich jeder beliebige flüssige Stoff in einen glasartigen Festkörperzustand überführen. Dazu muß die Kühlrate nur schnell genug gewählt werden, dass das Material keine Zeit hat einen Kristall zu bilden. Amorphes Metall beispielsweise wird mit Kühlraten von 10^12 K/s aus flüssigem Metall hergestellt (Quenchen). Streng genommen kann man also sagen, dass in einem idealen amorphen System (klingt irgendwie paradox…) die selbe Unordnung vorherrscht wie in einer Flüssigkeit, nur die thermische Energie reicht eben nicht mehr aus, um Fluktuationen auf mikrosopkischen Zeitskalen zu erlauben. Gläser sind also im Grunde hochviskose Flüssigkeiten. Dazu ein Rechenbeispiel:

Die Viskosität einer Flüssigkeit beträgt vielleicht 10^(-2) Pas, die eines Glases hingegen um die 10^12 Pas. Mit der Stokes-Einstein-Relation läßt sich also der Diffusionskoeffizient D bestimmen:

D = (k*T)/(6*pi*eta*R).

Für ein durchschnittliches Molekül mit Radius 1 nm ergibt das bei Raumtemperatur etwa D = 10^(-25) m^2/s. Wasser hat zum Vergleich einen Diffusionskoeffizienten von 10^(-9) m^2/s oder so. D.h. die Wassermoleküle sind wesentlich beweglicher als die eines Glases.

Weiterhin gilt für die Zeit tau, die ein Molekül im Schnitt für eine bestimmte Diffusionstrecke x braucht:

D = x^2/(6*tau)

Verwenden wir unser D des Glases so erhalten wir für eine Diffusionsstrecke von 1 mm ungefähr 10^12 Sekunden - das entspricht etwa 32000 Jahren.

Dann hab ich aber auch gehört dass Obiges nur ein modernes
Märchen wär, und dass Glas zwar keinen genauen Schmelzpunkt
hat, weil es nicht kristallin ist, sondern einen
Schmelzbereich, dessen untere Grenze aber mindestens bei 700°C
liegt.

Auch diese Aussage ist korrekt, widerspricht aber nicht den vorherigen Aussagen. Amorphe Materialien haben in der Tat keine fest definierten Phasenübergangsparameter, der Übergang wird eher einem Parameterbereich zugeschrieben, der sich je nach Lust und Laune mehr oder weniger weit erstrecken kann. Außerdem hängt dieser Bereich auch wieder von der verwendeten Kühlrate ab: Schnelleres Abkühlen führt zu einer höheren Glasübergangstemperatur.

Um dieses Problem zu umgehen, legt man sich meistens auf eine definierte Abkühlrate fest, um Stoffe vergleichen zu können. Zur Charakterisierung trägt man dann meistens die Viskosität in Abhängigkeit einer reduzierten Temperatur (T_Glas/T) auf, und ordnet Gläser nach ihrer Fragilität, also nach der Abruptheit, mit der sich der Glasübergang vollzieht.

Aber du hast ohnehin ein recht heikles Thema angesprochen, da sich der Glasübergang auch heutzutage noch nicht befriedigend in ein Modell packen läßt. Es gibt viele verschiedene Theorien, die verschieden Aspekte der Glasbildung mehr oder weniger gut erklären können - das letzte Wort ist hier also noch nicht gesprochen.

Ich hoffe, das war soweit verständlich

Ciao Christoph C>

Hallo

Ich habe schon öfter gehört, dass Glas bei Raumtemperatur
flüssig, wenn auch sehr zähflüssig ist. Angeblich kann man das
an alten Fensterscheiben nachmessen, dass diese unten dicker
als oben sind. Ich hab jetzt leider grad keine alte Scheibe
zum Nachmessen zur Hand. Wenn das so ist, hat Glas dann
überhaupt einen Gefrierpunkt?

Oft wird angeführt alte Kirchenfenster seien wegen der Zähflüssigkeit des Glases unten dicker als oben. Diese Behauptung hält aber genaueren Überprüfungen nicht stand. Es gibt aber genau so viele alte Fenster, die oben dicker sind als unten. Die Fertigungstoleranzen waren im Mittelalter eben höher.

Außerdem könnten Präzisionsinstrumente, wie große Teleskope, ihre Aufgabe nicht richtig erfüllen, wenn ihre Linsen auch nur kleinste Abweichungen zeigen würden. Auch bei den älteren großen Teleskopen, die teilweise schon über 100 Jahre auf dem Buckel haben, konnte der Effekt nicht beobachtet werden.

Eine Besonderheit zeichnet Glas schon aus. Durch den speziellen Herstellungsprozess hat der Feststoff noch einige Eigenschaften des flüssigen Materials. Siliziumdioxid (Sand,) der undurchsichtige Ausgangstoff, wird in geschmolzenem Zustand transparent. Glas wird daher als „erstarrte Schmelze“ bezeichnet

Ratz