Hallo Scalpello
Bisher wurde dir geantwortet, dass du deine Texte einkürzen
solltest.
das greift dann doch etwas zu kurz, auch wenn Deine Aussage zumindest auf den ersten Blick auf meinen - selbst sehr verdichteten
- Einwurf zutrifft. „Einkürzen“ jedenfalls ist noch keine Verdichtung, auch wenn verdichtete Texte in aller Regel kürzer sind als solche, die es nicht sind. Wer verdichtet, der kürzt nicht einfach - er konzentriert.
Am einfachsten ist Verdichtung in Bezug auf inhaltliche Verdichtung zu verstehen: dasselbe mit weniger Worten ausdrücken. Nicht weniger sagen, sondern weniger Worte machen. Verdichtung bedeutet vor allem Prägnanz. Und es sei schon hier angemerkt, dass sich formale und inhaltliche Verdichtung nicht wirklich voneinander trennen lassen. Es gibt eben auch eine formale Prägnanz. In diesem Sinn war mein „fasse Dich kurz“ gemeint - im Sinne inhaltlicher und formaler Prägnanz. Und die kann man auch Rilkes längeren Texten durchaus zugestehen.
Ich denke, das ist nur die halbe Wahrheit.
Heutige Lyrik lebet nicht nur von Kürze, wie manche episch
ausladenden Werke von Rilke bis Dylan Thomas zeigen.
Wie schon gesagt - es geht nicht einfach um Kürze. Es geht um das Verhältnis zwischen dem, was (und wieviel ) man zu sagen hat einerseits und dem, wie man das sagt andererseits.
z.B. Marie-Louise Kaschnitz:
Lebendiges Wasser
Forellenschnell
Grünschattig bachab
Das ist nun in der Tat ein gutes Beispiel für formale Verdichtung. Nicht wegen der Neologismen und der sehr knapp skizzierten Metaphern (die hier inhaltlich verdichten), sondern wegen des daktylischen Rhythmus mit abschließendem Jambus, der den Versen etwas ‚Atemloses‘ gibt, in Rhythmus und Melodie das schnelle Fließen des Baches wiedergibt. Dadurch bilden die Verse inhaltlich und formal eine ästhetische Einheit, sind ‚verdichtet‘. Die beiden folgenden Verse
Und die Flamme Bergahorn
Vor dem erloschenen Gletscher.
(in ruhigerem, alternierendem Rhythmus) geben dazu dann Zeit und Ort - Herbst (‚Flamme Bergahorn‘) und Hochgebirge (‚Gletscher‘) - und schließen die Strophe ab.
Es liegt in der Natur der Sache, dass solche formale Verdichtungen in Kleinformen eher gelingen. Ein ähnliches Beispiel formaler Verdichtung - wobei das Wasser freilich nur Metapher ist - finden wir in ‚Hyperions Schicksalslied‘:
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab
Wie hier formal - in Rhythmus und Sprachmelodie - das Fallen einschließlich des ‚von Klippe zu Klippe geworfen‘ in die Tiefe hinab parallel zum Inhalt nachgebildet wird - das ist schlicht genial. Das ist formale Verdichtung in höchstem Grad ganz ohne „freien Umgang mit Satzbau und Orthografie“, Neologismen und „ungewöhnliche Kombinationen“.
Wenn nun einem Nachwuchsdichter geraten wird, sich stärker auf formale Verdichtung seiner Arbeiten zu konzentrieren, dann ist wohl in erster Linie größere Klarheit in der Form gemeint - anders ausgedrückt: größere Formstrenge. Dann klappt’s irgendwann auch mit der Verdichtung. Dies - es war schon angemerkt - erarbeitet man sich am besten, indem man sich zunächst einmal auf kleinere (kürzere) Formen beschränkt. Eine große Form verdichtet zu füllen - das ist eine Aufgabe für Meister, nicht für Lehrlinge.
Weiteres zum Thema poetische Verdichtung hier:
http://www.johannes-karstner.de/protokoll.htm
Freundliche Grüße,
Ralf