Formale verdichtung von gedichtversen

Ich habe vor Kurzem an einem Gedichtwettbewerb teilgenommen. Heute kam die Antwort, in welcher stand: „Mit einer zusätzlichen formalen Verdichtung der Verse könnte Ihre poetische Aussage unterstrichen werden.“ ((zitiert aus dem Schreiben an mich von der Bibliothek Deutschsprachiger Gedichte)

Nun möchte ich gerne wissen, welche Bedeutung dieser Satzt hat. Sprich was genau ich an meinen Gedichten verbessern soll.
Vielen Dank für die Antwort(en)

Moin,

Nun möchte ich gerne wissen, welche Bedeutung dieser Satzt
hat.

aus fünfzehn Strophen sieben machen.
Oder aus zehnzeiligen Strophen solche mit sechs.

Gandalf

Fasse Dich kurz - owT
.

… Verdichten",
sagte meine Deutschlehrer. RIP
Gruß!
H.

Moin, kreatriver,

schon Goehte sagte (Westöstlicher Diwan):

Getretner Quark
wird breit,
nicht stark.

Oder, wie ein Philosoph mal ans Ende eines Briefes schrieb:

Werter Freund,
verzeihen Sie, dass dieses Schreiben so lang geraten ist, ich hatte nicht die Zeit, ihn zu kürzen."

Gruß Ralf

Hallo kreativer

Bisher wurde dir geantwortet, dass du deine Texte einkürzen solltest.
Ich denke, das ist nur die halbe Wahrheit.
Heutige Lyrik lebet nicht nur von Kürze, wie manche episch ausladenden Werke von Rilke bis Dylan Thomas zeigen.

Vielmehr verstehe ich unter einer «Verdichtung» eine spezielle Arbeit an der Sprache, welche den Text irgendwie mit Kraft auflädt, die beim Leser innere Bilder evoziert, ihn in einen eigens geschaffenen Sprachraum führt …

Dazu gehört ein freier Umgang mit Satzbau und Orthografie.
Auch Neologismen können dazukommen.
Vor allem aber ungewöhnliche Kombinationen, wie sie in normalen Texten nicht denkbar wären.
Schwer zu beschreiben, was ich meine … trotzdem verständlich?

z.B. Marie-Louise Kaschnitz:
Lebendiges Wasser
Forellenschnell
Grünschattig bachab

z.B. Johannes Bobrowski:
Landschaften. Himmel, geöffneter
Himmel schlägt herab. Die Wälder
stehen im Glanz.

z.B. Johannes Bobrowski:
Linien,
über der Kimmung,
leicht, falbes Gebirg. Der Streifen
Weiß. Dort geht
zuende die Flut. Der Küste
Fiebergrün scheint herauf.

Siehst du die spezielle Rhythmik, die mit der Alltagssprache nichts mehr zu tun hat?

Grüße
scalpello

Hallo Scalpello

Bisher wurde dir geantwortet, dass du deine Texte einkürzen
solltest.

das greift dann doch etwas zu kurz, auch wenn Deine Aussage zumindest auf den ersten Blick auf meinen - selbst sehr verdichteten :wink: - Einwurf zutrifft. „Einkürzen“ jedenfalls ist noch keine Verdichtung, auch wenn verdichtete Texte in aller Regel kürzer sind als solche, die es nicht sind. Wer verdichtet, der kürzt nicht einfach - er konzentriert.

Am einfachsten ist Verdichtung in Bezug auf inhaltliche Verdichtung zu verstehen: dasselbe mit weniger Worten ausdrücken. Nicht weniger sagen, sondern weniger Worte machen. Verdichtung bedeutet vor allem Prägnanz. Und es sei schon hier angemerkt, dass sich formale und inhaltliche Verdichtung nicht wirklich voneinander trennen lassen. Es gibt eben auch eine formale Prägnanz. In diesem Sinn war mein „fasse Dich kurz“ gemeint - im Sinne inhaltlicher und formaler Prägnanz. Und die kann man auch Rilkes längeren Texten durchaus zugestehen.

Ich denke, das ist nur die halbe Wahrheit.
Heutige Lyrik lebet nicht nur von Kürze, wie manche episch
ausladenden Werke von Rilke bis Dylan Thomas zeigen.

Wie schon gesagt - es geht nicht einfach um Kürze. Es geht um das Verhältnis zwischen dem, was (und wieviel ) man zu sagen hat einerseits und dem, wie man das sagt andererseits.

z.B. Marie-Louise Kaschnitz:
Lebendiges Wasser
Forellenschnell
Grünschattig bachab

Das ist nun in der Tat ein gutes Beispiel für formale Verdichtung. Nicht wegen der Neologismen und der sehr knapp skizzierten Metaphern (die hier inhaltlich verdichten), sondern wegen des daktylischen Rhythmus mit abschließendem Jambus, der den Versen etwas ‚Atemloses‘ gibt, in Rhythmus und Melodie das schnelle Fließen des Baches wiedergibt. Dadurch bilden die Verse inhaltlich und formal eine ästhetische Einheit, sind ‚verdichtet‘. Die beiden folgenden Verse

Und die Flamme Bergahorn
Vor dem erloschenen Gletscher.

(in ruhigerem, alternierendem Rhythmus) geben dazu dann Zeit und Ort - Herbst (‚Flamme Bergahorn‘) und Hochgebirge (‚Gletscher‘) - und schließen die Strophe ab.

Es liegt in der Natur der Sache, dass solche formale Verdichtungen in Kleinformen eher gelingen. Ein ähnliches Beispiel formaler Verdichtung - wobei das Wasser freilich nur Metapher ist - finden wir in ‚Hyperions Schicksalslied‘:

Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab

Wie hier formal - in Rhythmus und Sprachmelodie - das Fallen einschließlich des ‚von Klippe zu Klippe geworfen‘ in die Tiefe hinab parallel zum Inhalt nachgebildet wird - das ist schlicht genial. Das ist formale Verdichtung in höchstem Grad ganz ohne „freien Umgang mit Satzbau und Orthografie“, Neologismen und „ungewöhnliche Kombinationen“.

Wenn nun einem Nachwuchsdichter geraten wird, sich stärker auf formale Verdichtung seiner Arbeiten zu konzentrieren, dann ist wohl in erster Linie größere Klarheit in der Form gemeint - anders ausgedrückt: größere Formstrenge. Dann klappt’s irgendwann auch mit der Verdichtung. Dies - es war schon angemerkt - erarbeitet man sich am besten, indem man sich zunächst einmal auf kleinere (kürzere) Formen beschränkt. Eine große Form verdichtet zu füllen - das ist eine Aufgabe für Meister, nicht für Lehrlinge.

Weiteres zum Thema poetische Verdichtung hier:
http://www.johannes-karstner.de/protokoll.htm

Freundliche Grüße,
Ralf

Danke, Ralf, …
… für diese Ergänzung und Präzisierung!

Stimmt natürlich: auch mit konventionellem Vokabular und Syntax kann Sprache verdichtet werden – ein schönes Beispiel hat du zitiert.

***

Nachtrag zu meinem Einstieg «ARBEIT an der Sprache»:

Rilke hat irgendwo geschrieben, dass er an einem Vers von 4 Zeilen gerne schon mal eine halben Tag arbeitet.
(Es sind ja teilweise auch hochgradig elaborierte Zeilen und Verse. Andrerseits bin ich in letzter Zeit öfter auch auf Belege dafür gestossen, dass auch diesem Meister ist nicht mit jedem Gedicht ein Meisterwerk gelingt.)

Es grüßt
scalpello