Frage zum Historikerstreit

Hallo,

ich bin jüngst aus Langeweile auf den Historikerstreit gestoßen. Da ich ja nun kein Historiker bin, versuche ich seit einer Woche vergeblich, Sinnhaftigkeit in diesen Streit zu bringen. Vielleicht könnt ihr mir bei meinen Verständnisproblemen weiterhelfen, wobei ihr bitte jeden Satz so lesen sollt, dass vorneweg steht "In meiner beschränkten Laienauffassung […] ". Also nun:

a) Geht es wirklich um die Einzigartigkeit des Holocaust? Oder besser: Geht es wirklich darum, dass der Holocaust ein singuläres Ereignis ist?

Mir scheint, dass der Begriff der Einzigartigkeit in zweierlei Hinsicht zu gebrauchen ist. So scheinen mir (die Monographie dazu ist unterwegs hierher) sich die Kontrahenten doch über das einmalig Verbrecherische des Holocaust einig zu sein. Oder nicht ?

b) Besteht ein kausaler Nexus zwischen Gulag und Auschwitz ?

Noltes Auffassungen scheinen mir nicht dahinzugehen, Auschwitz zu relativieren, sondern nach den Kausalitäten zu fragen, die zu Auschwitz geführt haben. Hier sieht er eine (ideengeschichtliche? mentalitätsgeschichtliche?) Linie zum Gulag. Vereinfacht ausgedrückt haben sich die Nazis der Methoden der Bolschewiki bedient, und von ihnen das Freund-Feind-Schema und das Vernichtungsschema übernommen, so Nolte. Ich fand diese These sehr spannend. Was ist so verwerflich und falsch an ihr? Und wenn sie widerlegt ist, dann wodurch? Bin ganz gespannt.

c) Haben die vier von Habermas attackierten Historiker wirklich eine geschichtsrevisionistische Tendenzwende versucht, wie Habermas behauptet?

Ich kenne mich da gar nicht aus, da ich nach dem Historikerstreit geboren bin. Würde mich hier über Informationen aus eurer Sicht dazu freuen.

d) Weiterführendes

Wenn ihr weiterführende Links oder Material habt oder empfehlen könnt, so nehme ich diese Vorschläge dankbar auf und bedanke mich schonmal bei allen Antwortenden für Ihre Bemühung, mir Laien ein spannendes Stück Geschichte näherzubringen.

Viele Grüße

Cfg

Ja, es geht um die Einzigartikeit des Holocausts.

Nein, es gibt keinen Zusammenhang zsichen Vernichtsungslagern und Gulag.

Hallo heletz,

das hilft mir jetzt nicht unbedingt im Verstehen weiter. Leider lese ich in der im Internet verfügbaren Literatur (und auch in deinem Beitrag) lediglich einen Frontenverlauf. Ich habe mir antiquarisch bestellt:

Historiker-Streit - Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung (Piper 1987)

Ich habe nun mehrere Kommentare zum Historikerstreit im Internet gelesen und auf www.ernstnolte.de Noltes Schilderung seiner Faschismusforschung nachgelesen. Nolte schreibt, dass er die Einmaligkeit des Holocaust nicht geleugnet hat, sondern eine geschichtliche Einrahmung des Holocaust anhand der Äußerungen von Hitler und anderen vorgenommen hat. Dazu hat er auch eine intensive Recherchearbeit vorgelegt.

Wieso kann ich zwischen einer geschichtlichen Einordnung und einer Apologetik unterscheiden ? Rechtfertigt der Klassenmord der Bolschewiki den Holocaust ?

Doch wohl eher nicht. Und was wäre dann die gegenteilige Auffassung? Dass der Holocaust gar keinen historischen Rahmen hat ?

Und inwiefern ist diese Enthistorisierung des Holocaust mit einem historischen Materialismus oder seriöser Geschichtsforschung vereinbar ? Geht das Postualt, historische Einordnung zu unterlassen und nur das Verbrecherische hochzuhalten nicht gegen den guten Geschmack, gegen die Wissenschaftlichkeit und stellt sich somit nicht in den Bereich der Religion ?

Ich stelle diese Fragen als Wissenschaftstheoretiker, weil mich auch die Methoden der Sozialforschung und der Geschichte interessieren. Daher bitte ich um ausführlichere Antworten als das einfache Festschreiben von Lösungsformeln.

Aber danke für die Antwort.

Grüße

Cfg

Hallo,

kann mir bitte jemand sagen, warum ich keine Antworten bekomme ?

Die Monographie ist übrigens immer noch unterwegs.

Viele Grüße

Cfg

Servus,

ich kann Dir auch keine Lösung geben, aber vielleicht helfen das Dilemma herauszuarbeiten.

Setzt man den Holocaust in Relation zu anderen Massenverbrechen, so geht dies kaum ohne diesen in irgendeiner Form zu relativieren, was nicht gewollt sein kann. So führt eine „in Relation-Setzung“ beinahe unweigerlich zu der Vermutung, dass der Holocaust nur in Reaktion auf andere Ereignisse entstanden sei und nicht mehr als ein „beispielloses Ereignis“ begriffen wird. So würde der Holocaust zu einem gewöhnlichen, nicht qualitativ von anderen Großverbrechen unterscheidbaren Massenmord relativiert.

Sieht man ihn jedoch als ein rein singuläres Ereignis, so verkennt man möglicherweise, dass Völkermordsereignisse und Massenmorde an sich nicht an die NS-Ideologie und ein NS-Deutschland gebunden sein müssen, sondern auch in anderen politischen und sozialen Kontexten auftreten können (Gulag, Rote Khmer, etc.). Dies hat nicht nur Auswirkungen auf die Bewertung vergangener Ereignisse, sondern kann auch zu einer gewissen Blindheit gegenüber gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen führen.

Ein Ausweg aus dem Dilemma könnte sein, dass man sich einerseits klar macht, dass die „staatliche Planung“, „bürokratische Gründlichkeit“ und „industrielle Durchführung“ mit der die Morde des Holocaust geplant, organisiert und durchgeführt wurden, wirklich eine nie dagewesene Einzigartigkeit zeigt, die insbesondere die Unfassbarkeit der Verbrechen gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung ausmacht.

Andererseits sollte man es sich nicht so einfach machen, anzunehmen, diese Einzigartigkeit schließe ein erneutes Auftreten von Massenmorden veränderter Form für immer aus. Gauck’s Ansatz der Kritik an der Überhöhung „des absoluten Bösen“ scheint mir da gar nicht so verkehrt. Denn nur wenn wir begreifen, dass die Taten von an sich ganz normalen Menschen durchgeführt wurden, erkennt man wie schmal die Grenze (und somit wie leicht der Übergang)zwischen einer friedlichen Gesellschaft und einem massenmordenden Regime sein kann.

Man sollte sich klar machen, dass unter den entsprechenden Umständen auch der netteste Mensch zu abgrundtief Bösem fähig ist. Diese Sichtweise soll nichts entschuldigen, aber verhindern, dass man das Böse in eine abgegrenzte Ecke stellt und annimmt man selbst oder die moderne Gesellschaft sei gegenüber solchen Abgründen gefeit.

Gruß,
Sax

Hallo

Ein Ausweg aus dem Dilemma könnte sein, dass man sich
einerseits klar macht, dass die „staatliche Planung“,
„bürokratische Gründlichkeit“ und „industrielle Durchführung“
mit der die Morde des Holocaust geplant, organisiert und
durchgeführt wurden, wirklich eine nie dagewesene
Einzigartigkeit zeigt, die insbesondere die Unfassbarkeit der
Verbrechen gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung ausmacht.

Der Ausweg aus diesem Dilemma ist, sich erstens klarzumachen, dass Völkermorde nie rational fassbar sind, ob gegen die eigene oder fremde Ethnien gerichtet, zweitens, dass der Nazismus sich in einem extrem hochindustrialisierten und hocheffizient verwalteten Staat etablierte. Hierdurch waren die genannten Alleinstellungsmerkmale kein reiner Zufall mehr, weil der Holocaust eben nur dort in dieser Form stattfinden konnte. Sie sind für Deutschland eben vielmehr besonders auffällig ausgeprägt und daher scheinbar einzigartig, um so mehr, als man irrig anzunehmen geneigt ist, dass in einem technisch modernen Staatswesen die Menschen höheren moralischen Standards genügen müssten als anderswo auf der Welt, um dann um so schockierter zu sein, dass das nicht zutrifft.

Man könnte also zynisch sagen, die Deutschen begingen - im Gegensatz zu den anderen Tätervölkern der Geschichte - ihre Völkermorde halt so effizient, wie sie ihre Autos bauen, nur passt eben beim Völkermord manchem die Betroffenheitsvokabel „monströs“ besser, gerade so als gäbe es nicht-monströse Völkermorde oder Opfergruppen erster und zweiter Klasse, je nachdem, wer sie waren und wie und weshalb und von wem sie umgebracht wurden.

Ein „industrialisierter“ Völkermord wäre so gesehen etwa im italienischen Faschismus undenkbar, da schon organisatorisch undurchführbar gewesen. Hitler brauchte den deutschen Staat, weil er als einziger als brauchbares Mordwerkzeug für eine europaweite Tat dieser „Gründlichkeit“ in kurzer Zeit in Frage kam, denn er war zugleich auch der einzige Staat in Europa, der die dazu notwendigen Machtmittel zu entfalten in der Lage war.

Gruß
smalbop

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Servus,

Hi,

ich kann Dir auch keine Lösung geben, aber vielleicht helfen
das Dilemma herauszuarbeiten.

Setzt man den Holocaust in Relation zu anderen
Massenverbrechen, so geht dies kaum ohne diesen in irgendeiner
Form zu relativieren, was nicht gewollt sein kann. So führt
eine „in Relation-Setzung“ beinahe unweigerlich zu der
Vermutung, dass der Holocaust nur in Reaktion auf andere
Ereignisse entstanden sei und nicht mehr als ein
„beispielloses Ereignis“ begriffen wird. So würde der
Holocaust zu einem gewöhnlichen, nicht qualitativ von anderen
Großverbrechen unterscheidbaren Massenmord relativiert.

Wieso das ? Könnte das Ergebnis des In-Relation-Setzens nicht ebenfalls sein, dass der Holocaust ein Verbrechen von besonderer Qualität ist ?

Wäre das dann nicht eine fundierte Lösung, zu sagen: Ich habe verglichen und historisch eingeordnet. Das war mein Job als Historiker. Als Privatmann sage ich jedoch ganz deutlich: Das, was im Holocaust geschehen ist, ist moralisch bedeutend verwerflicher als lets say Archipel GUlag ?

Warum treten hier ein Faktenvergleich und eine moralische Aufrechnung nur vereint auf, nicht getrennt ?

Ich glaube, das ist der Punkt, den ich nicht ganz verstehe.

Viele Grüße

Cfg

Paralleldiskussion
Hallo Clydefrog,

„den Historikerstreit“ bewerten zu wollen, heißt schon, Partei zu ergreifen. Ganz schlecht, in der Geschichtswissenschaft. Das Gelände ist derart vermint, dass sich da kein reinwagt.

Eine ähnliche Frontstellung (das Militärvokabular finde ich durchaus passend) findest Du zum Stichwort Totalitarismustheorie.

Meine These dazu: es stehen sich Geschichtswissenschaftler und Geschichtserzieher gegenüber.

Gruß
Andreas

Hallo Andreas,

ich habe mittlerweile die ersten 15 Artikel aus dem Piperbändchen durchgearbeitet. Als ich das Thema angefangen habe, habe ich gedacht: „Wow, endlich wird mal substantiell gestritten.“

Aber je mehr ich lese, desto mehr habe ich den Eindruck, dass auf Leute wie Fest gar nicht geantwortet wird und Habermas tatsächlich im Wesentlichen schludrig gearbeitet hat. Andererseits kann man mit viel bösen Willen Hildebrand und Nolte durchaus so verstehen, wie er aber Stürmer dazurechnet, bleibt mir schleierhaft.

Wirklich schlimm finde ich aber das Niveau von Brumlik und Augstein. Die beiden werfen ja nur noch mit Dreck, so dass Brumlik am Ende sogar ein Weltbild a la Himmler unterstellt. Wie konnte so einer denn Professor werden ?

Das ist inzwischen die für mich wirklich bedenkenswerte Frage …

Viele Grüße

Eric