Französische Sprachwissenschaft/ Wortbildung

Hallo zusammen,

vll sind hier einige Romanisten dabei, die mir helfen könnten. Es geht um den Zusammenhang von Produktivität, Motivierung und Akzeptanz im Bezug zur Wortbildung.

Die Frage lautet, ob diese Formulierung korrekt ist (vorallem der letzte Satz stört mich):

_Nur nur motivierte, d.h. nur analysierbare Bildungen dienen als Modelle für Neubildungen (z.B. atterrissage als Modell für alunissage). Ein Grund dafür ist, dass der Sprecher aufgrund der einzelnen morpholgischen Bestandteile dieser Bildungen leichter die Gesamtbedeutung des Lexems erkennen kann.
Allerdings bildet das Kriterium der Motiviertheit nicht allein die Voraussetzung für Akzeptanz neuer Wörter.

Wörter können zwar leichter gebildet werden, wenn sie motiviert sind, müssen aber nicht zwingend dadurch in das Lexikon aufgenommen werden._

Vielen Dank :smile:

Hallo,

zunächst einmal wäre ich an Deiner Stelle vorsichtig, was Formulierungen mit „nur“ angeht. Denn normalerweise findet man für jede Regel, die ein sprachliches Phänomen beschreibt, immer mindestens ein Gegenbeispiel. Geschickter wäre es also, wenn Du Deinen ersten Satz ein wenig relativieren würdest.

Grundsätzlich ist Deiner These nicht viel entgegenzusetzen: Je klarer die Bedeutungen der einzelnen Morpheme verständlich sind, desto einfacher fällt es, durch den Austausch einzelner Morpheme analog zum Ursprungsbegriff neue Ausdrücke zu bilden.

Bei Deinem Beispiel atterrissagealunissage wäre ich jedoch vorsichtig. Denn genau genommen kommt hier eine Scheinetymologie zum Einsatz: Das Morphem terre in atterrissage steht für „Erde“ im Sinne von „Erdboden“, „festes Land (unter den Füßen)“. Bei der vermeintlich analogen Wortneubildung alunissage hatte man jedoch nicht terre, sondern das (im Ursprungswort nicht vorhandene) Element Terre (mit Großbuchstaben), also „Planet Erde“, im Kopf, das man dann durch lune ersetzt hat.

Eine ähnliche Grauzone in puncto Verständlichkeit gibt es meines Erachtens auch im Bereich der zahllosen griechischen und lateinischen Wortstämme. Das beste Beispiel aus dem Französischen, das mir dafür in den Sinn kommt, ist supermarchéhypermarché. Beide Präfixe sind im Französischen geläufig – und bedeuten praktisch dasselbe. Einziger Unterschied ist der, das super- lateinischen und hyper- griechischen Ursprungs ist. Beide Begriffe lassen sich also zu über- + Markt zerlegen. Dennoch haben sie im Alltagsgebrauch unterschiedliche Bedeutungen: Der Neologismus hypermarché beschreibt per Definition einen (deutlich) größeren Markt als der ältere Begriff supermarché. (Meine Vermutung: hyper klingt „gefühlt“ einfach größer/cooler als super.)

Mit anderen Worten: Es gibt schon einige Grauzonen, was die Frage der Motiviertheit angeht. Deshalb wäre ich, wie oben angedeutet, vorsichtig mit zu allgemeinen Aussagen.

Nebenbei: Was die Wortneubildung im Französischen angeht, ist die produktivste Methode in den letzten Jahren (meines Erachtens) die Kofferwortbildung, die ja in gewisser Weise auf einem ähnlichen Prinzip basiert wie die motivierte Wortbildung: der Verständlichkeit der einzelnen Morpheme.

Generell hängt die Akzeptanz sicher stark mit der Verständlichkeit des neugebildeten Wortes zusammen, die bei motivierten Wortbildungen als Grundlage natürlich deutlich höher ist als bei ex-nihilo-Kreationen. Aber es spielen immer deutlich mehr Faktoren mit, so dass man meines Erachtens praktisch keine sicheren Aussagen zu den kausalen Zusammenhängen zwischen Verständlichkeit und Akzeptanz treffen kann. Viele Wortneubildungen aus dem Bereich der Informatik (wie z.B. logiciel für Software) werden allgemein akzeptiert, obwohl man über ihre Verständlichkeit/Nachvollziehbarkeit diskutieren könnte. Andere Neologismen wie baladeur (für walkman) haben sich nie richtig durchgesetzt. Vielleicht liegt das an der mangelnden Verständlichkeit – denn der Schritt von „Spaziergänger“ zu „tragbares Kassettenabspielgerät, das man u.a. beim Spazierengehen nutzt“ ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass der englische (Markenname) walkman einfach cooler klang als der spröde baladeur und sich etabliert hatte, bevor der Neologismus geschaffen wurde. Oder daran, dass dieses Gerät (aus heutiger Sicht) nur eine relativ kurzlebige Modeerscheinung war, so dass der Faktor Zeit/Gewöhnung wegfiel, der sicher auch wichtig für die dauerhafte Akzeptanz von Wortneuschöpfungen ist. Mit anderen Worten: Am Ende entscheiden unzählige Faktoren über die Akzeptanz eines neuen Begriffes – oft auch der Zufall. (Interessante Beispiele dazu gibt es u.a. im Hebräischen. Aber ich denke, die erspare ich Dir lieber, da Du Dich ja auf Französisch konzentrieren willst/sollst. :wink:)

Ergo: Deine Aussage zur Akzeptanz ist sicher richtig, aber eben ein wenig holprig formuliert. Denn sie erweckt den Eindruck, dass Du Dir selbst widersprichst. Geschickter würdest Du sie meines Erachtens folgendermaßen aufbauen: Zunächst bringst Du die These „Je einfacher verständlich, desto größer die Akzeptanz.“ Dann gehst Du darauf ein, welche andere Kriterien die Akzeptanz beeinflussen (Klang des Begriffs, mögliche Alternativbegriffe, Bedarf an dem speziellen Begriff, offizielle Regulierung, Zufall usw. – eventuell mit aussagekräftigen Beispielen). Und zum Schluss wägst Du beide Thesen gegeneinander ab und ziehst (D)ein Fazit daraus.

Das wären meine Denkansätze zu der Fragestellung. Ich hoffe, Du kannst damit etwas anfangen.

Gruß,
Stefan

hallo stefan,

ich danke dir vielmals für deine ausführliche antwort!

das mit dem aterrissage/ alunissage habe ich aus einem buch. das wort aterrissage gibt es ja schon länger und heisst (erd)ladung. nach diesem muster wurde dann „mondlandung“ gebildet. klang eigentlich ganz logisch :smile:

ich formuliere das noch aus und schicke es dir zu, damit (wenn du magst) nochmal drüber lese kannst :smile:

Hallo nochmal,

wie Du richtig erkannt hast, will/werde ich Dir nicht Deine Aufgaben erledigen. Deswegen werde ich Dir nicht allzu viel korrigieren. [Für die anderen Mitleser: Ich beziehe mich auf den Text, den ich per Mail zugeschickt bekommen habe.] Zudem würde ich Dir dringend raten, keine Passagen aus meinen Denkansätzen direkt in Deine Arbeit aufzunehmen. Denn ohne Quellenangabe wäre es ein Plagiat (das durch Google-Volltextsuche direkt gefunden werden kann) und ich wage (auch mit korrekter Quellenangabe) zu bezweifeln, dass Dein(e) Dozent(in) ein Internetforum (selbst ein seriöses wie dieses) als glaubhafte Quelle für eine wissenschaftliche Arbeit ansieht.

Zwei, drei Anmerkungen hätte ich zudem noch:
„Ex-nihilo-Kreation“ ist kein sprachwissenschaftlicher Fachterminus, sondern gehört eigentlich in die Theologie. Ich hab ihn in meinen Ausführungen mit einem Augenzwinkern benutzt; in einer wissenschaftlichen Arbeit solltest Du ihn jedoch vermeiden. Zum einen könnte er Befremden auslösen, zum anderen führt auch hier die Google-Suche allein zu meinem Artikel (Stichwort: Plagiatsverdacht). Ähnliches gilt für die umgangssprachliche Formulierung (im Zusammenhang mit logiciel) „obwohl man über ihre Verständlichkeit/Nachvollziehbarkeit diskutieren könnte“.
Und wo wir schon bei logiciel sind: Wenn Du logiciel und baladeur als Beispiele für die (mangelnde) Akzeptanz von Neologismen verwenden willst, solltest Du in jedem Fall noch einmal Quellen (im Idealfall wissenschaftliche, ersatzweise auch Presseartikel o.ä.) suchen, die meine Aussagen bestätigen. Denn es sind, wie bereits erwähnt, Denkansätze und nicht die Ergebnisse quantitativer oder qualitativer wissenschaftlicher Erhebungen.

Gruß,
Stefan

P.S.: Um das noch einmal klar und unmissverständlich zu sagen: Du kannst Dir bei hier im Forum gerne Fragen stellen, Ratschläge einholen usw. Wenn Du allerdings ganze Passagen im Copy-Paste-Verfahren in Deine Arbeit übernimmst (egal ob mit oder ohne Kennzeichnung und Quellenangabe), hört der Spaß aber auf – sowohl für Dein(e) Dozent(in) als auch für mich und sonstige Menschen, die Dir hier im Forum antworten.

Hallo Nikita & Stefan,

das mit dem a t terrissage/ alunissage habe ich aus einem buch.
das wort aterrissage gibt es ja schon länger und heisst
(erd)ladung. nach diesem muster wurde dann „mondlandung“
gebildet. klang eigentlich ganz logisch :smile:

Naja, „logisch“ ist relativ. Es ist schon logisch und nachvollziehbar, aber dennoch eine Art Volksetymologie. Mit dem deutschen Wort „landen“ kann man keine so schöne Analogie bilden, aber dafür mit dem Begriff „erden“ aus der Elektrotechnik. Ich versteh nicht viel von Elektrotechnik, aber man kann ja bestimmte Sachen (Stromkreise? Steckdosen?) erden. Wenn man das auf einer zukünftigen Mondbasis tut, oder auf dem Mars, erdet man den Stromkreis (oder was auch immer) dann trotzdem, und mondet oder marst ihn nicht, obwohl das Wortspiel natürlich naheliegt. Das Morphem „Erde“ in „erden“ bezieht sich nicht auf unseren Planeten sondern auf den Erdboden, genau wie das eigentlich auch in dem französischen Wort der Fall ist. Deswegen ist alunissage eher ein Wortspiel, das sich vielleicht verselbstständigt hat. Müsste es nicht vielleicht auch a l lunissage heißen, rein vom Logischen her?

ich formuliere das noch aus und schicke es dir zu, damit (wenn
du magst) nochmal drüber lese kannst :smile:

Schick’s ruhig hier noch mal an alle. Vielleicht haben ja noch andere einen Kommentar abzugeben. :smile:

Viele Grüße,

  • André

Hallo André,

Naja, „logisch“ ist relativ. Es ist schon logisch und
nachvollziehbar, aber dennoch eine Art Volksetymologie.

genau auf diesen Aspekt wollte ich hinaus. Gerade ist mir ein (fiktives) Beispiel eingefallen, das die Sache vielleicht noch deutlicher macht: Der Name der Würzpflanze Liebstöckel hat ja (Proseminar „Einführung in die Sprachwissenschaft“, 1. Semester) nichts mit „lieb“ und „Stock“ zu tun, sondern geht auf den lateinischen Begriff levisticum zurück. Fände man nun eine dem Liebstöckel verwandte, aber giftige Pflanze, könnte man sie (einer volksetymolischen Auslegung des Grundwortes folgend) *Bösstöckel oder *Unliebstöckel nennen. Verständlich wäre dieser Neologismus, aber eben (aus sprachwissenschaftlicher Sicht) nicht ganz astrein. Ergo: Man müsste generell diskutieren, wer die Deutungshoheit in solchen Fragen haben sollte: Die Mehrheit des sprechenden Pöbels oder die sprachwissenschaftlichen Koryphäen in ihren Elfenbeintürmen…

[…]
Deswegen ist alunissage eher ein Wortspiel,
das sich vielleicht verselbstständigt hat.

Genau das ist es. Interessant ist hierbei die Tatsache, dass sich der Begriff zwar einerseits etabliert hat, andererseits aber von der Académie française (mehr oder weniger aufgrund der von Dir und mir beschriebenen „Probleme“) abgelehnt wurde.

Müsste es nicht
vielleicht auch a l lunissage heißen, rein vom Logischen her?

Das ist eben der Knackpunkt solcher Wortschöpfungen. Die Konsonantenverdoppelung nach dem Präfix a- ist meines Wissens ja ein Erbe aus dem Lateinischen, wobei sich das (moderne) Französisch bei neueren Wortschöpfungen nicht durchgängig an diese Regel hält. Laut TLFi gibt es manche Konsonanten, die eher verdoppelt werden, und andere, die eher nicht verdoppelt werden. Und selbst dann gibt es Beispiele wie apprêter vs. aplatir, die jedwede normative Regel unmöglich machen.

Bei alunissage wäre ein Doppel-l natürlich geschickt (analog sowohl zu atterrissage als auch zu anderen Begriffen, bei denen a- auf l trifft, wie alluminer). Interessanterweise wurde das in der Tat vereinzelt vorgeschlagen, konnte sich aber nicht durchsetzen.

Alles in allem zeigt das Beispiel, was dabei rauskommt, wenn nicht sprachwissenschaftliche Koryphäen wie unsereins neue Wörter kreiert, sondern Laien wie Luftfahrtpioniere, Physiker und Konsorten… :wink:

Gruß,
Stefan