Es ist doch offensichtlich, jedenfalls meiner bisherigen
Beobachtung nach, dass der Charakter des Kindes durchaus von
den Charakteren der Eltern abhängt, und zwar nicht nur
aufgrund seiner Erziehung, sondern wegen der Genetik.
…
Doch komischer Weise stellt sich Schopenhauer diese Frage
nicht. Die Eltern eines Menschen werden mit keinem Wort
erwähnt, als er über den Charakter des Menschen nachdenkt.
Hallo Kaschtscheij,
„Daß, bei der Zeugung, die von den Eltern zusammengebrachten Keime nicht nur die Eigenthümlichkeiten der Gattung, sondern auch die der Individuen fortpflanzen, lehrt, hinsichtlich der leiblichen (objektiven, äußern) Eigenschaften, die alltäglichste Erfahrung …“
So beginnt Kapitel 43 (Erblichkeit der Eigenschaften) der ‚Welt als Wille und Vorstellung‘. Im Anschluss an diese Einleitung erörtert Schopenhauer in aller Breite "Ob dies nun ebenfalls von den geistigen (subjektiven, innern) Eigenschaften gelte, so daß auch diese sich von den Eltern auf die Kinder vererbten … ". Um es kurz zu fassen - er bejaht dies.
Im Einzelnen erscheinen allerdings seine Thesen im Lichte heutiger wissenschaftlicher Erkenntnisse recht abstrus. So wird der Wille als „das Wesen an sich, der Kern, das Radikale im Menschen“ - genauer: „Neigungen und Leidenschaften“, „Charakterfehler und Schwächen“, „Laster wie auch … Vorzüge und Tugenden“ zum Erbteil des Vaters als sexus potior (höherwertiges Geschlecht)erklärt. Der Intellekt hingegen als „das Sekundäre, das Adventitium, das Accidens jener Substanz“ ist Erbteil der Mutter als sexus sequior (minderwertiges Geschlecht).
Auch wenn man berücksichtigt, dass Schopenhauer dies 1844 veröffentlichte und dabei den damaligen Stand der exakten Wissenschaften in Betracht zieht, so gehört doch dieses (und das folgende) Kapitel meines Erachtens zu den inhaltlich schwächsten Passagen seines Hauptwerkes. Er entwickelt und begründet seine Thesen nicht, sondern beschränkt sich darauf, sie in aller Breite mit ‚Belegen‘ aus der Geschichte zu stützen. Dessenungeachtet halte ich es trotzdem für lesenswert - und sei es nur, um Schopenhauers brillanten Stil in seiner Reife kennenzulernen.
Freundliche Grüße,
Ralf