Hallo Kaschtschej,
„Hier ist nun der Ort, an die … Darstellung zu erinnern, welche Kant von dem Verhältnis zwischen empirischem und intelligibelm Charakter und dadurch von der Vereinbarkeit der Freiheit mit der Notwendigkeit gegeben hat und welche zum Schönsten und Tiefgedachtesten gehört, was dieser große Geist, ja was Menschen jemals hervorgebracht haben. Ich habe mich nur darauf zu berufen, da es eine überflüssige Weitläufigkeit wäre, es hier zu wiederholen.“
A. Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens
Zürcher Ausgabe Bd. VI S. 136
Schopenhauer greift in der Tat bei seiner Behandlung des Problems der Willensfreiheit auf Kants Erörterung der Dritten Antinomie zurück und benutzt dabei - wie schon von Thomas erwähnt - auch Kants Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Chrakter. Hier ist - wie so häufig - Schopenhauer ohne Kant nicht zu verstehen; nicht zufällig fordert Schopenhauer von seinen Lesern eine Beschäftigung mit Kant als Propädeutik. Wenn ich Dein Posting lese, dann vermute ich, dass Dir diese Voraussetzung (noch) fehlt. Sich mit Kant zu beschäftigen ist unabdingbar, wenn man von Schopenhauer etwas mehr als nur die ‚Aphorismen zur Lebensweisheit‘ lesen und verstehen will. Sorry, da gibt es keine Abkürzung.
Zur Erhellung von Schopenhauers Argumentation und insbesondere der Begriffe ‚empirischer Charakter‘ und ‚intelligibler Charakter‘ scheinen mir folgende Abschnitte der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ hilfreich zu sein:
http://gutenberg.spiegel.de/kant/krvb/krvb097.htm
http://gutenberg.spiegel.de/kant/krvb/krvb098.htm
http://gutenberg.spiegel.de/kant/krvb/krvb098b.htm
Wer’s lieber gedruckt mag: die Fundstelle ist B567-587
Weiteren Aufschluss könnte auch noch § 28 der ‚Welt als Wille und Vorstellung‘ geben. Hier ein kurzer Auszug (Zweites Buch, Der Welt als Wille erste Betrachtung - S. 211 in Band 1 der Zürcher Ausgabe):
„Der Charakter jedes einzelnen Menschen kann, sofern er durchaus individuell und nicht ganz in dem der Species begriffen ist, als eine besondere Idee, entsprechend einem eigenthümlichen Objektivationsakt des Willens, angesehn werden. Dieser Akt selbst wäre dann sein intelligibler Charakter, sein empirischer aber die Erscheinung desselben. Der empirische Charakter ist ganz und gar durch den intelligibeln, welcher grundloser, d.h. als Ding an sich dem Satz vom Grund (der Form der Erscheinung) nicht unterworfener Wille ist, bestimmt. Der empirische Charakter muß in einem Lebenslauf das Abbild des intelligibeln liefern, und kann nicht anders ausfallen, als das Wesen dieses es erfordert. Allein diese Bestimmung erstreckt sich nur auf das Wesentliche, nicht auf das Unwesentliche des demnach erscheinenden Lebenslaufes. Zu diesem Unwesentlichen gehört die nähere Bestimmung der Begebenheiten und Handlungen, welche der Stoff sind, an dem der empirische Charakter sich zeigt. Diese werden von äußern Umständen bestimmt, welche die Motive abgeben, auf welche der Charakter seiner Natur gemäß reagirt, und da sie sehr verschieden seyn können, so wird sich nach ihrem Einfluß die äußere Gestaltung der Erscheinung des empirischen Charakters, also die bestimmte faktische oder historische Gestaltung des Lebenslaufes, richten müssen. Diese wird sehr verschieden ausfallen können, wenn gleich das Wesentliche dieser Erscheinung, ihr Inhalt, der selbe bleibt: so z.B. ist es unwesentlich, ob man um Nüsse oder Kronen spielt: ob man aber beim Spiel betrügt, oder ehrlich zu Werk geht, das ist das Wesentliche: dieses wird durch den intelligibeln Charakter, jenes durch äußern Einfluß bestimmt. Wie das selbe Thema sich in hundert Variationen darstellen kann, so der selbe Charakter in hundert sehr verschiedenen Lebensläufen. So verschiedenartig aber auch der äußere Einfluß seyn kann, so muß dennoch, wie er auch ausfalle, der sich im Lebenslauf ausdrückende empirische Charakter den intelligibeln genau objektiviren, indem er seine Objektivation dem vorgefundenen Stoffe faktischer Umstände anpaßt.“
Die Schlüsselstelle in Schopenhauers ‚Preisschrift‘ findet sich mE im Anschluss an mein Eingangszitat aus diesem Text:
„Jenes von Kant dargelegte Verhältnis des empirischen zum intelligibeln Charakter beruht ganz und gar auf dem, was den Grundzug seiner gesamten Philosophie ausmacht, nämlich auf der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich: und wie bei ihm die vollkommene empirische Realität der Erfahrungswelt zusammenbesteht mit ihrer transzendentalen Idealität; ebenso die strenge empirische Notwendigkeit des Handelns mit dessen transzendentaler Freiheit. Der empirische Charakter nämlich ist wie der ganze Mensch als Gegenstand der Erfahrung eine bloße Erscheinung, daher an die Formen aller Erscheinung, Zeit, Raum und Kausalität, gebunden und deren Gesetzen unterworfen: hingegen ist die als Ding an sich von diesen Formen unabhängige und deshalb keinem Zeitunterschied unterworfene, mithin beharrende und unveränderliche Bedingung und Grundlage dieser ganzen Erscheinung sein intelligibler Charakter, d.h. sein Wille als Ding an sich, welchem in solcher Eigenschaft allerdings auch absolute Freiheit, d.h. Unabhängigkeit vom Gesetze der Kausalität (als einer bloßen Form der Erscheinungen) zukommt. Diese Freiheit aber ist eine transzendentale, d.h. nicht in der Erscheinung hervortretende, sondern nur insofern vorhandene, als wir von der Erscheinung und allen ihren Formen abstrahieren, um zu dem zu gelangen, was außer aller Zeit als das innere Wesen des Menschen an sich selbst zu denken ist. Vermöge dieser Freiheit sind alle Taten des Menschen sein eigenes Werk; so notwendig sie auch aus dem empirischen Charakter bei seinem Zusammentreffen mit den Motiven hervorgehn; weil dieser empirische Charakter bloß die Erscheinung des intelligibeln in unserm an Zeit, Raum und Kausalität gebundenen Erkenntnisvermögen, d.h. die Art und Weise ist, wie diesem das Wesen an sich unsers eigenen Selbst sich darstellt. Demzufolge ist zwar der Wille frei, aber nur an sich selbst und außerhalb der Erscheinung: in dieser hingegen stellt er sich schon mit einem bestimmten Charakter dar, welchem alle seine Taten gemäß sein und daher, wenn durch die hinzugetretenen Motive näher bestimmt, notwendig so und nicht anders ausfallen müssen.
…
Mit einem Wort: Der Mensch thut allezeit nur, was er will, und thut es doch notwendig. Das liegt aber daran, daß er schon ist, was er will: denn aus dem, was er ist, folgt nothwendig Alles, was er jedesmal thut. Betrachtet man sein Thun obiective, also von außen; so erkennt man apodiktisch, daß es wie das Wirken jedes Naturwesens dem Kausalitätsgesetze in seiner ganzen Strenge unterworfen sein muß: subiective hingegen fühlt Jeder, daß er stets nur thut, was er will.“
Freundliche Grüße,
Ralf