Hallo,
Hier ein – wie ich finde – extrem interessantes Gedankenexperiment.
Neulich haben ein paar verrückte Linguistenfreunde und ich auf einer langen Zugfahrt überlegt, wie einfach es ist, die Aussprache der Buchstaben eines unbekannten Alphabetes zu entschlüsseln.
Dabei haben wir folgende fiktive/dystopische Situation konstruiert:
In einigen Jahren geht die Menschheit an einer Epidemie oder ähnlichen Katastrophe zugrunde, verdummt völlig oder ähnliches. Jahrhunderte bis Jahrtausende später entwickelt sich aus einigen Menschen wieder eine neue Zivilisation und entdeckt alte Schriftdenkmäler z.B. auf Grabsteinen, in alten noch vorhandenen Büchern, auf Plastiktafeln oder Metallschildern. Es ist jedenfalls noch genug da.
Aber es gibt folgende Voraussetzungen:
- die Sprache der neuen Menschen ist völlig neu und unverwandt mit den heutigen Sprachen auf der Erde, unterliegt aber noch den Sprachuniversalien (hat Vokale und Konsonanten, ist eine Lautsprache, etc.)
- die Zivilisation ist ähnlich fortgeschritten wie wir, besitzt Kenntnisse über Linguistik und Sprachen, aber eben nicht über eine der heutigen Sprachen
- Werke über Linguistik, sowie Tonaufnahmen oder Beschreibungen, wie man die einzelnen Buchstaben auszusprechen hat oder Bilder mit Mundform & Zungenstellung zu den einzelnen Lauten existieren nicht mehr
Ist es dann noch möglich für das Neue Volk, die Aussprache einer heutigen Sprache zu rekonstruieren?
Dabei muss man sagen, die grobe, ungefähre Aussprache. Vielleicht bei einer Sprache wie Spanisch oder Finnisch, wo Aussprache und Schreibweise nah zusammenliegen. Englisch, Dänisch oder Irisch wär dann nochmal ein Zacken schwerer, da können die Leute sich später noch die Zähne ausbeißen. Der Einfachheit halber konzentrieren die Leute bzw. wir uns erstmal nur aufs lateinische Alphabet!
Hier unsere Vorüberlegungen:
Wir dachten uns, egal was für eine Schrift das Neue Volk benutzt, sie werden recht schnell rausfinden, dass wir (wir haben erstmal nur über die Europäer nachgedacht) eine Alphabetschrift benutzen, selbst wenn sie selbst so etwas nicht kennen. Die Anzahl der Zeichen macht das deutlich.
Durch Vergleiche von Texten finden die Leute dann auch raus, dass die meisten Sprachen am Satzanfang das erste Zeichen etwas anders schreiben und auch im Satz einige Wörter mit diesen Sonderformen beginnen. Eine 1:1-Entsprechung zwischen den meist kleineren und den meist größeren Zeichen wird sehr schnell gefunden werden. Die Vermutung liegt nahe, dass im Satz die „großgeschriebenen“ Wörter Namen von Personen, Plätzen oder Göttern sein könnten. Die Linguisten von später werden auch leicht die einzelnen Sprachen unterscheiden können und Quellen sammeln und feststellen, im Deutschen schreibt man noch viel mehr groß, evtl. also eine bestimmte Wortart…
Durch Vergleiche von vielen vielen Texten zu der Referenzobjekten oder zu Piktogrammen kann über längere Zeit hinweg auch die Bedeutung vieler Wörter in einigen der Sprachen herausgefunden werden, erstmal so „Ausgang“, „Eingang“, „Rauchen verboten!“ und so weiter, später über den Kontext vielleicht auch mehr. Schließlich sogar fast alle Wörter.
Aber kann man herausfinden, dass das „A“ bzw. das „a“ in „Ausgang“ für jenen Vokal steht, den wir benutzen? Oder dass das „s“ eben einen Zischlaut bezeichnet?
Ich denke, gute Linguisten können über mehrere Theorien hinweg die Idee entwickeln, dass aeiou für Vokale und der Rest für Konsonanten stehen muss. Die allermeisten Sprachen (alle?) haben heute viel mehr Konsonanten als Vokale. Die Annahme dürfte auch für spätere Sprachen gelten. Findige Neuvolk-Linguisten können also z.B. bei der Analyse des Italienischen herausfinden, das praktisch jedes Wort mit einem der 5 Zeichen aeiou endet, aber mit beinahe jedem Zeichen anfangen kann. Statistisch gesehen (und weil es phonotaktisch sinnvoller erscheinen wird) werden sie also schlussfolgern, dass aeiou unsere Vokale und der Rest Konsonanten sind. Ein großer Schritt! Silbentrennung und ähnliches könnte dabei helfen, Silben voneinander zu unterscheiden, das kann auch hilfreich sein.
Aber können sie auch herausfinden, wie welcher Vokal und welcher Konsonant ausgesprochen wurde? Da sind wir nämlich nicht weitergekommen…
- Mit Buchstabenhäufigkeit kommt man nicht weiter. Im Deutschen ist „e“ zwar der häufigste Vokal, in anderen Sprachen aber nicht.
- Eventuell helfen übersetzte Texte, wo z.B. das K der einen Sprache dem C der anderen entspricht. Diese Laute *könnten* also gleich sein. Auch das, was in der einen Sprache SH geschrieben wird, ist in der anderen Sprache SCH und in einer dritten Ŝ oder sowas. Dadurch kann man schließen, dass S und SH/SCH/Ŝ vielleicht ähnliche Laute darstellen, vllt. ist letzteres also die palatalisierte, labialisierte Variante oder sowas…
- Leider haben wir kaum Wörter, die so onomatopoetisch sind, dass man sofort auf einen Laut kommen könnte. Mit größtem Bedenken kamen wir maximal auf auf „miau“ und „muh“, die laute der Katze und der Kuh, die wohl in sehr vielen Sprachen mit „m“ beginnen, eventuell auch beim Neuen Volk. „Miau“ fängt in einigen Sprachen aber auch mit „n“ an; wenigstens können die Linguisten aber davon ausgehen, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen Nasal handelt. Aber andere Tierlaute („wau“ vs. „gaf“; „mäh“ vs. „baa“) helfen kaum.
- Es gibt die sogenannte Sonoritätshierarchie, die erklärt warum z.B. Silben gerne mal mit „-nt“ aufhören können, aber seltenst mit „-tn“. Das trifft auf viele Sprachen zu, aber nicht auf alle, und auch innersprachlich gibt’s da Ausnahmen. Aber so eine Skala könnte eine kleine Hilfe bieten, einige Laute voneinander zu unterscheiden… aber reicht das? Ich denke fast nicht…
- Über Gedichte können Reime gefunden werden (ich denke, dieses Konzept ist leicht ersichtlich und existiert womöglich auch beim Neuen Volk)… man sieht dort z.B. welche Laute gleich klingen, z.B. „“
Ich möchte euch daher um Ideen bitten, selbst wenn sie nur „laut gedacht“ sind. Ich suche keine ultimative Lösung, nur eine Idee, wie man einige Laute herausfinden kann. Wir sind uns nämlich nicht sicher, ob das überhaupt möglich ist. Ich will mich aber nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass das unmöglich sein soll…
Das Neue Volk ist jetzt also soweit, dass es die Bedeutung der meisten Wörter kennt, sowie die Endungen (z.B. Plural, 1. Person Singular, Imperativ, Genitiv usw.) in vielen der europäischen Sprachen erkannt hat. Übersetzungen sind daher (sicher mit Abstrichen) möglich. Aber es existiert noch keine Aussprache für die Schriftzeichen… Vokale und Konsonanten sind identifiziert, ebenso die typischen Silbenstrukturen. Einige Lautentsprechungen existieren, z.B. K=C (in einigen Sprachen bzw. zwischen einigen Sprachen). In manchen Sprachen (z.B. Deutsch) tritt C nur vor H oder K auf… kleine Hinweise.
Lassen die sich irgendwie zu einem großen Ganzen zusammenpuzzeln? Wer hat noch Ideen?
Vielen Dank im Voraus für Eingebungen!
Wie gesagt, es ist nur ein spannendes Gedankenexperiment, keine Hausaufgabe oder sonstwas. Die Sache bereitet mir schlaflose Nächte.
Liebe Grüße,
- André