Hallo Hanna,
ich bin leider Laie, ich kann Dir also keine wissenschaftlich fundierte Interpretation lesen. Dennoch verstehe ich einiges in den von Dir zitierten Werken, finde es auch nicht unbedingt schwerer verständlich als „klassische“ Literatur.
Ich sah die Tunnelröhre als Hohlhippe und ich sah
Egon beim Versuch, sie mit einem Schweizer Kracher in die Luft
zu jagen. Er werde sämtliche Hohlhippen Österreichs sprengen,
hörte ich ihn sagen, und alle Hippen weltweit und darüber
hinaus. Egon geht immer ein wenig zu weit. Am Ende des Tunnels
sa ich ein Wesen, es hüfpte und sang.
Was mir als erstes auffällt: Egon geht „ein wenig“ zu weit, also sieht das lyr. Ich auch eine gewisse Notwendigkeit, diese Tunnelröhre zu sprengen. Mit einem schweizer Kracher ist dies natürlich nicht getan, insofern ist hier die Anstrengung der Auflehnung gegen Althergebrachtes schön versinnbildlicht. Es gibt auch ein Lied von Ludwig Hirsch, „Ich hab’s wollen wissen“, in dem er singt, er habe sich mit einer Gitarre vor die Mauer gestellt und gehofft, dass diese tanze. Mit Musik Mauern einreißen - aber wenn das ein kleiner Künstler macht, bringt das nicht viel. Hier eben mit Literatur Tunnel sprengen.
Ich habe noch nicht verstanden, was gegen Tunnel zu sagen ist. Ein Sinnbild für beschränktes Denken (Tunnelblick)? Oder ein unerlaubter Eingriff in die Natur? In letztem Falle wäre mir auch der Vergleich mit der Hohlhippe verständlich (Du hast sicher bereits selbst nach diesem Wort gegoogelt oder wusstest ohnehin, was das ist), mit der man ja auch in den Sahneberg auf seinem Eisbecher einfährt und ihn so zerstört.
Vier Interpretationsmöglichkeiten habe ich noch für das hüpfende und singende Wesen am Tunnelende: Entweder es ist der Widerpart, der Schadenfreude darüber zeigt, dass Egons Vornehmen ja nicht gelingen kann; oder es gibt an beiden Enden des Tunnels (wofür auch immer er steht) Aktivisten, die ihn zerstören wollen, und das Wesen freut sich tatsächlich über solch tatkräftigen Beginn; oder die Wesen (dann bewusst keine Menschen, da sie offenbar nicht genug nachdenken) am anderen Ende haben das Problem mit dem Tunnel noch überhaupt nicht erkannt und können deshalb noch fröhlich sein (wie die Bewohner Pompejis); oder aber am Ende des Tunnels wartet eine bessere Welt. Je länger ich schreibe, desto mehr fällt mir dazu ein, und wenn ich nicht weiß, was das Schlechte am Tunnel ist, kann ich mich für keine der Varianten entscheiden; die letzte schließe ich eigentlich aus, sie ist zu plump.
Kunst ist eine subjektive Behauptung, sagte ich zu Egon. Er
spitzte die Lippen und blies ein Ornament in die Luft. Es
verschlang meine Aussage. Da formte ich ein Figürchen mit
schärferem Profil und warf es meinem Alter Ego an den Kopf.
Geistiges Bimbam. Als es vorbei war, ließen wir uns von der
Stille streicheln.
Egon bläst mit dem Mund ein Ornament (also Kunst) in die Luft. Durch die orale Artikulation wird der Aspekt „Behauptung“ hervorgehoben. Künstler behaupten eben immer etwas, auch die bildenden, und das ist demnach so gut wie ausgesprochen.
Nun verschlingt das Ornament die Aussage des lyr. Ichs. Warum? Weil der Begriff „Ornament“ schon eine Wertung beinhaltet: Ein Ornament ist etwas per se Kunstvolles, und somit kann etwas, das hier wie objektiv als „Ornament“ bezeichnet wird, nicht mehr nur subjektiv sein. Egon widersprach also.
Nun kommt wieder das lyr. Ich (es ist ja eh ein und dieselbe Person, wie wir erfahren - die die Aussage, Kunst sei eine subjektive Behauptung, gerade in Worte gefasst hat und sich noch über die Richtigkeit dieser Aussage im Unklaren ist) und hält dagegen: Das Ornament hat kein ausreichend scharfes Profil, es ist nur Beiwerk, kann nie die Kunst selber sein: Denn Kunst hat eine Aussage, muss also ein „schärferes Profil“ innehaben. Dies ist dann aber nicht mehr nur einfach schön, sondern eben subjektiv.
Nun ist das lyr. Ich gezwungen, beide Positionen abzuwägen, die Behauptung zu verifizieren. Das ist offenbar anstrengend und man wird zwischenzeitlich gänzlich verwirrt: „geistiges Bimbam“. Das ist aber irgendwann vorbei, die Aussage steht oder fällt - ist jedoch nicht mehr relevant, denn nun folgt nur die resignierte Stille, die beiden Akteure sind sich in ihr einig. Sie lassen sich streicheln, also ist die Stille objektiv - zweifelsfrei - angenehm, und alles, was die stille unterbricht, kann nur subjektiv als Kunst oder als Tand eingestuft werden.
Strömung, Ingeborg Bachmann
_So weit im Leben und so nah am Tod,
daß ich mit niemand darum rechten kann,
reiß ich mir von der Erde meinen Teil;
dem stillen Ozean stoß ich den grünen Keil
mitten ins Herz und schwemm mich selber an.
Zinnvögel steigen auf und Zimtgeruch!
Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein.
In Rausch und Bläue puppen wir uns ein._
„So weit im Leben und so nah am Tod“ weckt die Assoziation an Hebbels „Sommerbild“, siehe z.B. hier: http://www.maraba.de/Dichter/hebbel.htm. Hier beschreibt sie entweder ihr Alter, wie sie es erlebt (aber so alt ist sie ja gar nicht geworden), oder wie sie es sich vorstellt. Es fehlt nur der Schmetterling, dann wird sie vergehen - und so muss sie die letzten Momente zu nutzen wissen. Dafür zieht sie sich auf eine (sicherlich figurative) eigene, einsame grüne Insel mitten im Ozean zurück, und so kann sie den „Rausch“ und die „Bläue“ des Lebens gänzlich auskosten, sich darin verlieren und auf den Tod als Metamorphose, erkennbar am Einpuppen, also wohl auf das jenseitige Leben vorbereiten.
Die Zinnvögel und den Zimtgeruch durchschau ich allerdings auch nicht. Vielleicht Kindheitserinnerungen? Zimtgeruch sieht doch sehr nach Plätzchenbacken aus, und Zinnvögel könnten ein Spielzeug gewesen sein (es gab ja auch Zinnsoldaten) - dann erlebt sie in dieser ihrer Einsamkeit ihre Jugend nochmal, sieht die Erfüllung und kann beruhigt von dannen gehen.
Liebe Grüße
Immo