Geltungsbereich Präzidenzfälle USA

Hallo,

ich habe mal eine Frage zum Amerikanischen Rechtssystem. Dort wird ja viel über Präzidenzfälle entschieden. Ist es dann so, dass wenn ein Mal eine Entscheidung vom Supreme Court getroffen wurde, dass diese dann bei nachfolgenden Fällen gelten? Bzw. gelten sie manchmal nicht und manchmal doch?

Danke!
MfG, Jan

Hallo Jan,

zumindest die unteren Gerichte sind an derlei Präzedenzfälle gebunden. Das ist ähnlich, wie wenn bei uns Oberlandesgerichte oder gar der Bundesgerichtshof Entscheidungen fällen. Ein Unterschied liegt aber darin, dass bei uns hierzulande immer das Gesetz an sich massgebend ist, während es im amerikanischen Recht auch durchaus selbst Bestandteil der Rechtsprechung wird.

Gruß!

Horst

Hallo,
das US-amerikanische Recht ist - anders als das kontinentaleuropäische - ein Fallrechtssystem. Untergerichte sind an Rechtsgrundsätze früherer Entscheidungen der Obergerichte gebunden. Hinsichtlich des einzelstaatlichen Rechts sind die einzelstaatlichen Untergerichte an die Entscheidungen der Berufungsgerichte und an die des einzelstaatlichen Supreme Court gebunden, in bundesrechtlichen Fragen an die Entscheidungen der zuständigen Bundesgerichte und letztlich an die des Bundes-Supreme Court. Allerdings ist umstritten, ob auch unveröffentlichte Gerichtsentscheidungen solche precedents (Präjudizien) darstellen. Das jeweils höchste Gericht kann von den von ihm aufgestellten precedents abweichen und so neues Recht schaffen. Bewusste Abweichungen der Untergerichte kommen nur in Ausnahmefällen vor (wenn sie annehmen, dass das Präjudiz veraltet ist und dass das Obergericht diese Meinung teilt).
Grüße, Peter
P.S.: Einen sehr guten Einstieg in diese Materie bietet Hay, US-Amerikanisches Recht, C.H.Beck, das ich auch für obige Ausführungen zu Rate gezogen habe.

Hallo!

zumindest die unteren Gerichte sind an derlei Präzedenzfälle
gebunden. Das ist ähnlich, wie wenn bei uns Oberlandesgerichte
oder gar der Bundesgerichtshof Entscheidungen fällen.

Es gibt bei uns keine Präzedenzfälle. Anders als im anglo-amerikanischen Recht haben gerichtliche Entscheidungen hier ausschließlich Bindungswirkung im konkreten Fall, aber nie darüber hinaus. Auch Entscheidungen des BGH entfalten keine generelle Bindungswirkung. Zwar halten sich Untergerichte aus mehreren Gründen faktisch vielfach an die Rechtsprechung der Obergerichte, sie sind aber rechtlich nicht dazu verpflichtet.

Ein
Unterschied liegt aber darin, dass bei uns hierzulande immer
das Gesetz an sich massgebend ist, während es im
amerikanischen Recht auch durchaus selbst Bestandteil der
Rechtsprechung wird.

Sagen wir vielleicht so: Hierzulande ist ausschließlich das Gesetz maßgeblich, während das Recht in den USA durch das Zusammenspiel von Gesetzgebung und Rechtsprechung geschaffen wird.
Grüße, Peter

???

???

Ja und nein. Ihr redet beide in etwa vom Gleichen, aber versteht einander nicht… :smiley:

Du sachst…
„zumindest die unteren Gerichte sind an derlei Präzedenzfälle
gebunden. Das ist ähnlich, wie wenn bei uns Oberlandesgerichte
oder gar der Bundesgerichtshof Entscheidungen fällen.“
Ich sage: Die Entscheidungen des BFH oder anderer Gerichte sind keine Präzedenzfälle, auch nicht so etwas Ähnliches, sondern Einzelfallentscheidungen. Das Prinzip des Fallrechtes (case law system), das sich auf Präzedenzfälle stützt, ist dem kontinentaleuropäischen Rechtskreis fremd.
Grüße, Peter

Naja, es ist schon richtig, daß Entscheidungen von hohen Gerichten in Deutschland keine bindende Wirkung haben, da jeder Richter nur dem Gesetz(estext) und seinem Gewissen verpflichtet ist.
Auf der anderen Seite werden auch in Deutschland bei einem Prozess Literatur und Urteile anderer Gerichte gesichtet und herangezogen. In so fern haben Urteile der oberen Gerichte natürlich auch einen starken Einfluß auf die Urteilsfindung. Die Frage ist, wie weit hier der Einfluß reicht. Und ist daß nun „ähnlich“ oder doch „anders“? :wink:

Anders.

Das Case Law ist nämlich, soweit ich weiß, nicht nur die bloße Erkenntnis, was Recht ist, sondern selbst eine Rechtsquelle. Wir hingegen kennen nur Gesetze und mitunter noch Gewohnheitsrecht als Rechtsquellen.

Das wiederum bedarf einer Einschränkung, denn daneben gibt es auch noch das sog. Richterrecht:

http://de.wikipedia.org/wiki/Richterrecht

Seine Einordnung als Rechtsquelle ist allerdings streitig. Nach meiner (zugegebenermaßen etwas unreflektierten und sponntan gebildeten) Auffassung ist Richterrecht, um es mit den Worten von Wikipedia zu sagen, nur eine Rechtserkenntnisquelle. Die Rechtsquelle ist also abermals das Gesetz (oder das Gewohnheitsrecht), und die obergerichtliche Rechtsprechung dient nur der Erkenntnis, was dieses Recht besagt.

Levay

Hallo!

Nach meiner (zugegebenermaßen etwas unreflektierten und
sponntan gebildeten) Auffassung ist Richterrecht, um es mit
den Worten von Wikipedia zu sagen, nur eine
Rechtserkenntnisquelle. Die Rechtsquelle ist also abermals das
Gesetz (oder das Gewohnheitsrecht), und die obergerichtliche
Rechtsprechung dient nur der Erkenntnis, was dieses Recht
besagt.

Das Richterrecht geht darüber hinaus. Nicht die Gesetzesvorschrift, sondern deren gerichtliche Auslegung, die „Glosse“, ist anzuwendendes Recht. Im amerikanischem Recht muss nicht nur die Gesetzesvorschrift aufgefunden, sondern auch in jedem Fall geprüft werden, wie die entsprechende Gesetzesbestimmung durch die Rechtsprechung ausgelegt wird. Nur letzteres ist am Ende ausschlaggebend (vgl. Hay, US-Amerikanisches Recht, 3. Aufl., Rz. 24). Im Ergebnis zieht damit die richterliche Rechtsfortbildung vor, der Gesetzgeber greift (nachträglich) regulierend ein.
Grüße, Peter

Anders.

Das Case Law ist nämlich, soweit ich weiß, nicht nur die bloße
Erkenntnis, was Recht ist, sondern selbst eine Rechtsquelle.
Wir hingegen kennen nur Gesetze und mitunter noch
Gewohnheitsrecht als Rechtsquellen.

Naja, im Endeffekt ist es eigentlich egal wie man es nennt. Jeder Richter eines Amtsgerichtes oder Landesgerichtes wird sich 3x überlegen, ob er bei einer Entscheidung maßgeblich von ähnlichen Urteilen höherer Gerichte abweicht - auch wenn dies „sein gutes Recht ist“… :wink:
Bei nicht-so-banalen Geschichten schaut auch ein Richter (zumindest die zwei die ich kenne) sich mal in der Literatur um oder liest nach, ob da z.B. das BVerfG oder der BGH schon was dazu geurteilt hat. Speziell bei neuen Gesetzen ist es doch faktisch so, daß erst mal Kraut und Rüben geurteilt wird (weil jeder Richter den Gesetzestext ein wenig anders interpretiert), und erst ein Urteil eines OLG, BGH oder gar BVerfG da ein wenig für „Ordnung“ sorgt. Das war in den letzten Jahren immer wieder im „Onlinerecht“ zu beobachten, seien es Abmahnungsgeschichten, Urteile über Störungshaftung oder Impressumspflichten. Man könnte dies nun den Gesetzgebern anlasten - oder der deutschen Amtsprache, aber es ähnelt ja schon den amerikanischen Verhältnissen. Es wird zwar hier nichts bindendes erzeugt, aber die praktische Auswirkung ist oft gleich.
Allerdings wird hier bei der Diskussion auch etwas anderes zu wenig beachtet: Kein Fall ist wirklich gleich - oder fast keiner.

Das wiederum bedarf einer Einschränkung, denn daneben gibt es
auch noch das sog. Richterrecht:

http://de.wikipedia.org/wiki/Richterrecht

Seine Einordnung als Rechtsquelle ist allerdings streitig.
Nach meiner (zugegebenermaßen etwas unreflektierten und
sponntan gebildeten) Auffassung ist Richterrecht, um es mit
den Worten von Wikipedia zu sagen, nur eine
Rechtserkenntnisquelle. Die Rechtsquelle ist also abermals das
Gesetz (oder das Gewohnheitsrecht), und die obergerichtliche
Rechtsprechung dient nur der Erkenntnis, was dieses Recht
besagt.

Nur ist eben genau diese Erkenntnissuche auch meinungsbildend - und zwar nicht unerheblich. In so fern bleibt dem Richter in Deutschland zwar seine Freiheit, aber wie „frei“ er denn nun wirklich urteilt wenn er „höhere“ Rechtsprechung durchgelesen hat, ist halt eine andere Sache, wenn auch eher psychologische oder philosophische.