Gen Abend

Liebe Experten,

nicht selten kann man z.B. „gen Abend“ in zeitlicher Bedeutung antreffen, also in der Bedeutung von „gegen Abend“. Ich finde für diese (zeitliche) Bedeutung von „gen“ jedoch keine Bestätigung in zuverlässigen Quellen.
Ist das nun richtig oder einfach eine weit verbreitete falsche Verwendung des ursprünglichen „gen Abend“ in der Bedeutung von „gen Osten“, wo das „gen“ ja die auch in entsprechenden Quellen fixierte örtliche Bedeutung der Richtungsangabe hat?

Vielen Dank im Voraus.
Roland

Hallo, Roland,

nicht selten kann man z.B. „gen Abend“ in zeitlicher Bedeutung
antreffen, also in der Bedeutung von „gegen Abend“. Ich finde
für diese (zeitliche) Bedeutung von „gen“ jedoch keine
Bestätigung in zuverlässigen Quellen.

ist Grimm zuverlässig genug?

_ GEN für gegen, d. h. aus diesem gekürzt im raschen sprechen (daher auch ge’n, s. 3, e), s. unter gegen I, 3, mit nebenformen gein und gan oder gon.

1)gen, d. i. gên, ist im 16. jh. noch in allgemeinem gebrauch neben gegen, auch noch im 17. jh. häufig genug, während da sonst die rückbildung zu gegen im gange ist, die wol schon im 16. jh. begann.

d) von der zeit, wie gegen, z. b. gen tag
…_
http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbu…

Gruß
Kreszenz

Guten Abend, Roland,
Hallo, doch, das darf man schon, wenn man Poet ist:

GEN veraltet, noch poet. für gegen, nach; gen Süden
aus: WAHRIG Rechtschreibung

GEGEN [Adv.] 1 ungefähr zu einem Zeitpunkt; g. Abend, g. Morgen; g. vier Uhr 2 ungefähr (als Mengen-, Maßangabe); es waren g. 20 Personen anwesend; man braucht dafür g. zwei Stunden, g. zehn Pfund
Aus: BERTELSMANN Wörterbuch
http://www.wissen.de/wde/generator/wissen/services/s…

Und in Grimms Wörterbuch:
") bei ADELUNG auch noch in der seesprache, z. b. der wind ist nord gen ost. vor ortsnamen aber, wie gen Leipzig, gen Frankfurt reisen, bezeichnet er es als der ‚gemeinen sprechart‘ angehörig und überbleibsel des oberdeutschen (wo es in mundarten noch lebendig ist), während das frühere wbb. des 18. jh., auch die mitteldeutschen, z. b. RÄDLEIN, LUDWIG einfach als geläufig aufführen.

c) dichter haben es doch auch für andere wendungen wieder aufgenommen aus der älteren sprache:

die kinderlein ängstlich gen hause so schnell,
gesellt sich zu ihnen der fromme gesell.
GÖTHE 1, 227 (d. getr. Eckart);

da nieder rauscht es in den flusz,
und stemmend gen der wellen grusz
es fliegt der bug, die hufe greifen.
ANN. V. DROSTE ged. 274.

d) dazu auch g e n ü b e r , gegenüber:

mir genüber gähnt die halle
grauen thores, hohl und lang.
ANN. V. DROSTE 102;

dir genüber und zur seite
hier Christinos, dort Carlisten.
218;

gen über aber auf dem andern feld …
RÜCKERT ges. ged. 1, 48."
http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbu…

Entschuldigung, das ist viel geworden, aber wenn ich im Grimm wühle… außerdem stehen da noch mehr schöne Beispiele. Und wenn jemand nach Rom fährt und sagt, er werde gen Italien ziehen, dann kann das missverständlich sein ;-»

gargas

Kreszenz, gargas, vielen Dank!
Das entspricht genau meinem Empfinden, mir hat nur die Bestätigung gefehlt.

Grüße
Roland

Hallo Roland,
kleine off-topische philosophische Frage am Rand: Was ist, wenn man sich auf den Sprachgebrauch eines Ausdrucks bezieht, der Unterschied zwischen einer häufig benutzten falschen Verwendung und einer korrekten Anwendung eines Ausdrucks? :smile:

Gruß,

  • André

Hallo André,

wenn man Regeln bloß als Zusammenfassung und mehr oder weniger abstrakte Formulierung des häufigsten Gebrauches versteht (und ich denke, etwas anderes können sie bei Sprachen nicht gut sein - vgl. das hohe Maß an Rationalität in den frühen Formen der NDR, und deren kläglicher Mangel in den zuletzt übrig gebliebenen), liegt der Unterschied hier bloß zwischen dem, was ein Einzelner subjektiv als „häufig“ wahrnimmt und dem, was lexikographisch ausgezählt und als häufig erkannt worden ist.

Eigentlich schade, weil normierende Regeln, die sich nicht bloß am Beobachtbaren orientieren, Ästhetik und Rationalität der ganzen Veranstaltung Sprache enorm heben könnten. Bloß: Woher will man sie nehmen und wie wären sie überhaupt legitimiert?

Schöne Grüße

MM

Guten Morgen,
Da mich die senile Bettflucht gen halber vier hat aufstehen lassen, ich im Moment nichts Sinnvolleres zu tun habe und es mich gerade interessiert, wie unsere Dichter mit dem „gen“ umgehn, habe ich mal in meiner Lyrik-CDRom gestöbert.
Es stimmt schon, dass es meistens zur Richtungsangabe benutzt wird, und am häufigsten fliegt, schwebt, blickt, hebt … irgendwas oder irgendjemand gen Himmel. Auch werden martialische Gestalten sehr oft gen eine Stadt oder einen Feind geführt, und einige Poeten haben wohl eine besondere Vorliebe für das Wort.
Auf „gen Abend / Mitternacht / Morgen“ bin ich ein paar Mal gestoßen. Ein paar kuriose Fundstellen will ich doch zitieren - von ca 1000 (genau abschätzen kann ich es nicht, weil auch ew’gen, heil’gen etc gefunden werden):

Gleich vertauschet er die Strahlen,
Vollen Schein, gen volle Pein.

Kömmt er herbey, gut Wächter frey,
Den Gast gen niemand melde.«

[Bierbaum: Irrgarten der Liebe. DB Sonderband: Die digitale Bibliothek der deutschen Lyrik, S. 6465
(vgl. Bierbaum-Irrgarten, S. 385)]

Sieh! wie lächelt gen Morgen die Ferne,
Horch! wie grüßet die Lerche die Sterne,
Tireli, Tireli –
Der treue Müller ist hie.

Du hast auch den Lindwurm
Gen den er sich g’setzt
Oft sakrisch im Landsturm
Zusammengefetzt.

Der Sonne Licht, hüll’ Ros’ und Röselein
Gen Frost und Glut in deine Gnade ein,
[Brentano: Ausgewählte Gedichte. DB Sonderband: Die digitale Bibliothek der deutschen Lyrik, S. 8265
(vgl. Brentano-W Bd 1, S. 610)]

Zweimal mit stumpfer Lanze zu rennen Mann gen Mann
[Büchner: Frauenherz. DB Sonderband: Die digitale Bibliothek der deutschen Lyrik, S. 9390 (vgl. Büchner-Frauenherz, S. 120)]

Und zum Schluss: eine Dame, die ihren Schoß gen Himmel führt - und das im 17. Jhdt!

An Lauretten
Laurette bleibstu ewig stein?
Soll forthin unverknüpffet seyn
Dein englisch-seyn und dein erbarmen?
Komm/ komm und öffne deinen schooß
Und laß uns beyde nackt und bloß
Umgeben seyn mit geist und armen.

Laß mich auff deiner schwanen-brust
Die offt-versagte liebes-lust
Hier zwischen furcht und scham geniessen.
Und laß mich tausend tausendmahl/
Nach deiner güldnen haare zahl/
Die geister-reichen lippen küssen.

Laß mich den ausbund deiner pracht/
Der sammt und rosen nichtig macht/
Mit meiner schlechten haut bedecken;
Und wenn du deine lenden rührst/
**Und deinen schooß gen himmel führst/**
Sich zucker-süsse lust erwecken.

Und solte durch die heisse brunst/
Und deine hohe gegen-gunst
Mir auch die seele gleich entfliessen.
So ist dein zarter leib die bahr/
Die seele wird drey viertel jahr
Dein himmel-rundter bauch umschliessen.

Und wer alsdenn nach meiner zeit
Zu lieben dich wird seyn bereit/
Und hören wird/ wie ich gestorben/
Wird sagen: Wer also verdirbt/
Und in dem zarten schoosse stirbt/
Hat einen sanfften tod erworben.
[Hoffmannswaldau: Gedichte aus Neukirchs Anthologie, Bd. 1. DB Sonderband: Die digitale Bibliothek der deutschen Lyrik, S. 34403
(vgl. Neukirch-Anth. Bd. 1, S. 407 ff.)]

Mit der Bitte um Entschuldigung für die Ferkelei am frühen Morgen ;-»
gargas

Hi Gargas,

das hier ist - leider unverferkelt - ein Beispiel für eine weitere Möglichkeit:

Sieh! wie lächelt gen Morgen die Ferne,
Horch! wie grüßet die Lerche die Sterne,
Tireli, Tireli –
Der treue Müller ist hie.

Im dichterischen Sprachgebrauch kann die Tageszeit anstelle der Himmelsrichtung stehen, wie hier „Morgen“ für Osten.

Grüße,

Beate

Im dichterischen Sprachgebrauch kann die Tageszeit anstelle
der Himmelsrichtung stehen, wie hier „Morgen“ für Osten.

Hallo,

eine weitere Möglichkeit (nicht nur Dichtung):

„Hierauf beschloß der König mit zwei Heeren nach Sachsen zu ziehen, in der Weise, daß er selbst mit der einen Hälfte der Truppen von Mittag her einrückte, sein Sohn Karl aber mit der andern Hälfte bei Köln über den Rhein zöge und dann von Abend her in das Land eindränge.“

Das ist eine (obsolete) Übersetzung der annales regni francorum bzw. sogenannten Einhardsannalen (zum Jahr 794) aus der Reihe „Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit“.

(Ich weiss aber nicht, woher der Übersetzer die betreffende Wendung zieht, Lateinischer Text nach MGH:
„Inde motus est exercitus partibus Saxoniae per duas turmas: in unam fuit domnus Carolus gloriosissimus rex; in aliam misit domnum Carolum nobilissimum filium suum per Coloniam.“)

Jedenfalls ist hier der Sprachgebrauch zwar nicht mit ‚gen‘, aber doch mit der Tageszeitangabe als Himmelsrichtung eindeutiger.

Daniel